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Nationalfriedhof

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  • zuletzt bearbeitet am 1. Juni 2022

1. Einleitung

Der Nationalfriedhof wird definiert als ein „besonderer Friedhof eines Staates, auf dem häufig bekannte Persönlichkeiten bestattet sind“.1https://de.wiktionary.org/wiki/Nationalfriedhof. Diese können Geistesgrößen, Kunst- und Kulturschaffende, Wissenschaftler, Staatsführer, aber auch Militärs und gesellschaftlich exponierte Personen sein.2Marquart, Benjamin: „Grand homme“. In. Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Auernhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 01.01.2018. DOI: 10.6094/heroicum/grand-homme. Vorläufer hat der Nationalfriedhof in anderen Mustern seit der Antike. Diese Formen wurden und werden in den seit dem 19. Jahrhundert entstehenden modernen Nationalfriedhöfen teilweise wiederaufgenommen, etwa durch klassizistisch-antike Architektur und Symbolik. Berühmte und bedeutende Menschen wurden im christlichen Europa zunächst vorzugsweise in Kirchen bzw. Kirchen- oder Familiengruften auf Friedhöfen bestattet. Erst mit der Anlage neuer Friedhöfe außerhalb der historischen Stadtgrenzen seit dem 18. Jahrhundert verfügte man über so viel Platz, dass eigene Abteilungen für besondere Personengruppen eingerichtet werden konnten. Träger dieser Friedhöfe waren die dazugehörenden Kirchengemeinden, die aber in den seltensten Fällen bestimmten, welche Personen an herausgehobenen Stellen des Friedhofs beerdigt wurden.

2. Nationalfriedhöfe als Erinnerungsorte

Nationalfriedhöfe sind nicht immer klar zu unterscheiden von Soldaten-, Krieger- und Heldenfriedhöfen oder von Gedenkorten, an denen Kämpfe stattgefunden haben, die als national bedeutend angesehen werden (z. B. Verdun, Wolgograd). Olaf B. Rader stellt fest:

„Totenrituale und Gräberkulte sind besonders geeignet, um sowohl einer Vergangenheits- als auch einer Zukunftsinszenierung zu dienen. Deutlich zeigt sich aber auch: Das Grab ist nicht aus sich selbst ein Gedächtnisort, an dem kollektive Erinnerungen haften, sondern es ist der Bezugspunkt einer sozialen Gruppe. Nur weil diese Gruppe einer identitätsstiftenden Erinnerung bedarf, wurde diese dem Begräbnisplatz zugeschrieben.“3Rader, Olaf B.: Grab und Herrschaft. Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin. München 2003: C. H. Beck, 246.

Der Friedhof als Ensemble wie einzelne Grablegen/-denkmäler charakterisieren die ⟶mediale(n) Funktion(en) und belegen eine gewisse Affordanz: es kann sich um einen Helden- bzw. Soldatenfriedhof oder um einen Nationalfriedhof handeln. Ebenso können einzelne Gräber durch unterschiedlichste Symbole und Gestaltung verschiedene Deutungen zulassen. Durch familiengeschichtliche Bezüge („Gattin des …“, „Geborene …“) bzw. allein durch den Familiennamen konnotieren Gräber auch zeitliche Verläufe und historische Dimensionen (so z.B. der Warschauer Powązki-Friedhof, auf dem mehrere weibliche Angehörige der Familien Piłsudski und Chopin bestattet sind).

Mit Ausnahme des 1791 eingerichteten Panthéon in Paris als nationale Heldengruft dient im westlich-bürgerlichen Raum ein Nationalfriedhof nicht unbedingt oder vorrangig dem Heldengedenken oder der Heldenverehrung, doch ist bei erhaltenen Grabstellen Prominenter eine fortdauernde Relevanz ihrer Taten, Leistungen, Leiden etc. festzustellen. Ein Friedhof ist ein Ort pluraler ⟶Erinnerungskulturen. Die Gräber bzw. Grabdenkmäler dienen einer Archivierung der Erinnerung, schaffen Gedenktage für den prominenten Toten oder die prominente Tote, durch ritualisierende Praktiken kann das Gedächtnis an die Verblichenen aufgerufen werden. Dabei verbinden sich materielle und immaterielle Medien.

Solchermaßen „archivierte“ Personen sind für eine (Verehrer-)Gemeinschaft nicht verloren. Auch nur latent erinnerte Persönlichkeiten bewahren ihre soziale und kommunikative Anschlussfähigkeit und können wiederentdeckt werden.4Feitscher, Georg: „Erinnerung und Gedächtnis“. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 16.06.2021. DOI: 10.6094/heroicum/egd1.3.20210616. Friedhöfe und Gräber sind Erinnerungsorte, an denen Rituale des Ortes stattfinden, die in Bezug auf den Geburts-, Wohn-, Wirkungs- und/oder Sterbeort der Persönlichkeit stehen: „Sie büßen jedoch mit zunehmender geographischer Verteilung der Verehrergemeinschaft an Wirkmacht ein“, weshalb die Umbettung von Gräbern ein wesentliches Merkmal sowohl von National- als auch von Helden-, Soldaten- und Kriegerfriedhöfen ist. Die zu starke Dezentralisierung von nationalen Orten oder Gedenkstätten im Kontext von heroisch-nationalen (-patriotischen) Grablegen ist dem nationalen Gedenken tendenziell abträglich (etwa Deutschland: Luther, Kepler, Leibniz, Lessing, Schiller/Goethe, Bismarck, Hindenburg), während solche in Frankreich (Paris) oder Russland (St. Petersburg, Moskau) eher zentral verortet sind.

Wereschtschagin: „Die Besiegten. Totenmesse“
Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin: „Die Besiegten. Totenmesse“
Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin: „Die Besiegten. Totenmesse“
Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin: „Die Besiegten. Totenmesse“ / „Pobezdennye. Panichida“
entstanden ca. 1877/78 im Kontext des Russisch-Türkischen Krieges, Moskau, Tretjakow-Galerie.
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Quelle

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Erläuterung

Wereschtschagins Gemälde bildet das Gegenstück zu einem Nationalfriedhof ab, nämlich das namenlose Massengrab gefallener russischer Soldaten. Kaum erkennbar sind die entkleideten Körper, nur das dunkle Kopf- und Barthaar deutet schwach die Situation. Der russische Offizier hinter dem Popen hält ein Buch in der Hand, vielleicht eine Liste der Toten.

Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin: „Die Besiegten. Totenmesse“ / „Pobezdennye. Panichida“
entstanden ca. 1877/78 im Kontext des Russisch-Türkischen Krieges, Moskau, Tretjakow-Galerie.
Lizenz: Public Domain
Erläuterung: Wereschtschagins Gemälde bildet das Gegenstück zu einem Nationalfriedhof ab, nämlich das namenlose Massengrab gefallener russischer Soldaten. Kaum erkennbar sind die entkleideten Körper, nur das dunkle Kopf- und Barthaar deutet schwach die Situation. Der russische Offizier hinter dem Popen hält ein Buch in der Hand, vielleicht eine Liste der Toten.

3. Historischer Überblick

In Mitteleuropa bildeten sich Friedhöfe von nationaler Bedeutung meist unauffällig erst im Laufe des 19. Jahrhunderts aus älteren gemeindlichen Friedhöfen heraus, indem dort zunehmend Prominente bestattet wurden. Dies ist bei dem Berliner Dorotheenstädtischen Friedhof der preußischen und ab 1871 der deutschen Hauptstadt der Fall. 5https://de.wikpedia.org/wiki/Friedhof_der_Dorotheenstädtischen_und_Friedrichswerderschen_Gemeinden. Allerdings befinden sich auf anderen Berliner Friedhöfen wie dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde (Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg) und dem Waldfriedhof Dahlem (Roland Freisler) zahlreiche Grablegen Prominenter. Der „Südwestkirchhof“ in Berlin-Stansdorf enthält die Gräber von Heinrich Zille, Gustav Langenscheidt, Werner Siemens, Walter Gropius, der russisch-orthodoxe Friedhof in Tegel (seit 1893) die Gräber russischer Emigranten: Wladimir Nabokow, Wladimir Suchomlinow und Sergej Sasonow. Er wurde 1762/70 angelegt und verzeichnete im 19. Jahrhundert eine zunehmende gesellschaftliche Bedeutung der Bestatteten. In seiner Art verkörpert er den westlich-europäischen Typus eines Nationalfriedhofs: Auf ihm sind Geistesgrößen und Prominente der Kultur, Wissenschaft und der Gesellschaft im Sinne des grand homme (Genie, Geistesheld) als Gegenmodell des militärisch-kämpferischen héros beerdigt, kaum jedoch Staatsmänner oder militärische Führer. Die dort bestatteten ⟶Nationalhelden6 Pink, Johanna: „Nationalheld“. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 18.02.2020. DOI: 10.6094/heroicum/nd1.1.20200218. Hier wird der Nationalheld wesentlich durch heroischen Tod und eine militärisch-nationale Großtat definiert. Allerdings schränkt die Autorin ein, dass in vielen Staaten ein formalisierter Nationalheldenstatus nicht existiert und die Definition von Nationalheld gesellschaftlichen und medialen Diskursen überlassen bleibt. erlangten ihren Heroismus/ihre Heroisierung nicht durch einen heroischen Tod, sondern durch ⟶Taten und Leistungen im Leben, die oftmals gar nicht nationaler oder patriotischer Art waren.7Marquart: „Grand homme“: „Langlebigkeit und Nachhaltigkeit seiner Werke [waren] entscheidendes Kriterium für den Erfolg des Genies“. Dazu Heinzer, Felix / Leonhard, Jörn / von den Hoff, Ralf (Hg.): „Einleitung: Relationen zwischen Sakralisierungen und Heroisierungen“. In: Sakralität und Heldentum (= Helden – Heroisierungen – Heroismen, 6). Würzburg 2017: Ergon, 9-18, hier 10: soziale Distinktion, Exzeptionalität und Exemplarität. Seit 1945 gibt es aber eine eigene Abteilung für die 1944/45 getöteten deutschen Widerstandskämpfer.

Diesem Modell entsprechen andere nationale Friedhöfe in Osteuropa, die nicht als Helden- oder Nationalfriedhöfe angelegt waren: der 1786 eröffnete Lytschakyw-Friedhof in Lemberg (ukr. Lviv/Lyčakivs’ke kladovyšče) oder der 1790 angelegte Warschauer Powązki-Friedhof, auf denen sich über zwei Jahrhunderte eine Reihe mehr oder weniger bekannter (nationaler) Prominenter dieser Städte ihre Ruhestätte aussuchte. Solche Friedhöfe sind nicht nur kunstgeschichtlich, sondern auch historisch-politisch aufschlussreich und heute national bedeutsam.

Der 1871 eröffnete Wiener Zentralfriedhof ist einer der größten seiner Art und hat Prominente wie auch einfache Bürger aufgenommen. Durch seine künstlerisch-architektonische Ausgestaltung und die hier besonders feierlichen Begräbnisrituale sticht er hervor und ist im 20. Jahrhundert selbst ein nationaler Gedächtnisort geworden, der in der Literatur vielfach beschrieben wurde. Das wurde auch möglich durch Umbettungen prominenter Bürger von Friedhöfen älterer Außenbezirke (Christoph Willibald Gluck, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert).

4. Fallstudie: Nationalfriedhöfe in Russland

Das größte Land der Erde bietet sich für eine Fallstudie besonders an, da es seit dem späten Mittelalter infolge seiner Expansion fast ständig in Kriege verwickelt war und sich durch häufige politische Konjunkturen, etwa bei gewaltsamen Machtwechseln, starke Ausschläge in der Erinnerungskultur ergaben: von einer vollständigen damnatio memoriae bis zur Neufiguration eines nationalen „Helden“. Darüber hinaus ist seit der Präsidentschaft von Wladimir Putin im Jahre 2000 zu beobachten, dass ein staatlicher russischer Patriotismus forciert wird, der nationale Helden in den Vordergrund rückt, Geschichtspolitik betreibt und selektiv heroisiert. Damit unterscheidet sich die Russische Föderation von der späten Sowjetzeit, in der der offizielle Sowjetpatriotismus immer weniger Ausstrahlungskraft hatte. Weiterhin ermöglicht ein flexibler Umgang mit Heroisierungsversuchen, auch militärische Niederlagen als heroischen Triumph zu deuten. Als im Ersten Weltkrieg ein erster Nationalfriedhof entstand, wurde dieser in der Folge Austragungsort von erinnerungspolitischen Deutungskämpfen, wer überhaupt als (National-)Held anzusprechen sei.

4.1. Russland: Vorläufer

In der russischen Orthodoxie ist das Ritual der Beerdigung und das Totengedenken sehr ausgeprägt, wobei die gesellschaftliche Stellung des Toten und in der Sowjetzeit seine Agonalität entscheidend sind, um verewigt zu werden. Verbunden mit der Orthodoxie ist die Erdbestattung bzw. bei hochgestellten Personen Sarkophage in Kirchen und Gruften, gelegentlich in eigenen Gruft-Kirchen und -Kapellen (russ. usypal’nica). So wurden die Zaren, teilweise auch Großfürsten im Moskauer Neuerlöser-Kloster (russ. Novospasskij) und in den Kremlkirchen (Erzengel-Kathedrale)8Der Moskauer Kreml wurde mit dem Aufstieg des Großfürstentums seit dem 14. Jahrhundert durch Bestattungen, Reliquienüberführung, als Herrscher- und Metropolitansitz politisch und sakral aufgewertet. Catherine Merridale: Der Kreml. Eine neue Geschichte Russlands. Frankfurt/M. 2014: S. Fischer, 54-98 und passim zum Kreml als zentraler sakral-nationaler Gedächtnisort. Vgl. Sebastian Kempgen: Die Kirchen und Klöster Moskaus. Ein landeskundliches Handbuch (=Sagners Slavistische Sammlung, 21). München 1994: Verlag Otto Sagner. Dazu trug die über 70jährige Konzentration des kommunistischen Russland im Kreml-Komplex bis heute wesentlich bei. Zur Legitimation von „Herrschaft durch Leichen“, einschließlich von Umbettungen (translatio) vgl. Olaf B. Rader: „Neuer Sinn aus alten Knochen: Zur Konstruktion kollektiver Erinnerungen durch Gräberkulte“. In: Patrick Eiden et. al. (Hg.): Totenkulte. Kulturelle und literarische Grenzgänge zwischen Leben und Tod. Frankfurt/New York 2006: Campus Verlag, 23-33. Auch nach der Verlegung der Hauptstadt 1713 behielt Moskau als Ort des alten Russland (Moskowien) seine symbolisch-sakrale Bedeutung und blieb Krönungsort der Zaren., ab 1725 in der Grabeskirche der Peter-Pauls-Kathedrale der Peter-Pauls-Festung in Sarkophagen bestattet. Begüterte Adlige verfügten teilweise über eigene Kirchen oder Kapellen ihrer Landsitze, Mitglieder der Zarenfamilie und Adlige wurden auch auf den Friedhöfen des Petersburger Alexander-Newskij-Klosters bestattet.

Nationale Helden, die nicht der Herrscherfamilie angehörten, wurden in der Frühphase der Ausbildung eines nationalen Bewusstseins (Ende des 18. Jahrhunderts) ebenfalls in Kirchen bzw. in Nebenkapellen bestattet, allerdings meist dezentral, etwa an ihrem Heimat-, Sterbe- oder letzten Wirkungsort: Grigorij Potemkin in Cherson (Boden der Festungskirche St. Katharinen); Rumjanzew-Sadunaijskij im Kiewer Höhlenkloster (Entschlafenskathedrale); Suworow in einer Kirche des Alexander-Newskij-Klosters; Zar Peter III. von 1762 bis 1796 im Alexander-Newskij-Kloster, 1796 Umbettung in die Petersburger Peter-Pauls-Kathedrale, Kutusow in der Petersburger Kasaner Kathedrale 1813, Barclay de Tolly auf Gut Bekhof (Kreis Valga, Livland) 1818; Skobelew im Dorf Saborowo (Gouvernement Rjasan) 1882. Eine Vorstufe zu einem Nationalfriedhof kündigte sich 1862 mit dem 50jährigen Jubiläum der Schlacht von Borodino 1812 an. Am 31. Oktober 1813 wurde der Generalleutnant Dmitrij P. Neverovskij (1771–1813) in der Völkerschlacht bei Leipzig tödlich verwundet und starb zwei Tage später. Er wurde in Halle an der Saale begraben. 1912, zur Hunderjährung der Schlacht von Borodino wurden die sterblichen Überreste von Halle auf das Schlachtfeld von 1812 in einer feierlichen Zeremonie umgebettet.9https://ru.wikipedia.org/wiki/Неверовский,_Дмитрий_Петрович, im Juli 1912. Von den russischen Zeitgenossen wurde wohl übersehen, dass es sich um ein „schiefes“ Jubiläum handelte. Borodino war schon 1817 und 1837 ein nationaler Erinnerungsort. Vgl. Georges Nivat: Les sites de la mémoire russe. Bd. 1 Géographie de la mémoire russe. Paris 2007: Fayard, 321-323. Schon vorher wurde die „Territorialisierung des Gedenkens“ in Russland eingeleitet.10Plokhy, Serhii: „The City of Glory: Sevastopol in Russian Historical Mythology“. In: Journal of Contemporary History 35.3 (2000), 369-383. Ihm zufolge ging damit die moderne nationale Mythologisierung in Russland einher, was er anhand der heldenhaften Verteidigung Sewastopols im Krimkrieg darlegt. Von den Beteiligten der Zeremonie und der dazu eingeladenen französischen Militärmission11Bei Borodino hatten auch Truppen der Rheinbundstaaten, etwa Sachsen und Bayern gekämpft. Offenbar wurden keine Delegationen aus diesen Ländern eingeladen, während die französische Militärmission nicht als Repräsentant des ehemaligen Gegners, sondern des zukünftigen Verbündeten in einem Krieg mit Deutschland behandelt wurde. wurde der Akt bereits als Ausgestaltung eines Nationalfriedhofs aufgefasst: neben bestehenden Grabstellen gab es Denkmale und Stelen für gefallene Offiziere und zur Erinnerung an beteiligte Truppenkörper.12Vojna, politika, pamjat’. Napoleonskie vojny i Pervaja mirovaja vojna v prostranstve jubileev (Krieg, Politik, Erinnerung. Die napoleonischen Kriege und der Erste Weltkrieg in den Dimensionen der Jubiläen) (hg. von O. S. Poršneva, N. N. Baranov, V. N. Zemcov). Moskau 2020: ROSSPEN, 208-214. Die Hundertjahrfeier zu Borodino wurde nicht zuletzt zu Ehren des französischen Verbündeten mit weit größerem Aufwand betrieben als die russische Teilnahme an der Hundertjahrfeier der Völkerschlacht bei Leipzig ein Jahr später. Vgl. ebd., 274-276.

4.2. Russland: Anfänge

Die Anfänge eines russischen Nationalfriedhofs sind in der ausgehenden Zarenzeit zu finden. Sie haben dabei einen militärisch-patriotischen Charakter, während die Geistes- und Kulturgrößen von Russlands goldenem Zeitalter meist dezentral auf älteren Friedhöfen der beiden Hauptstädte und in den Gouvernements ruhten bzw. ruhen. Eine Ausnahme bilden die beiden Prominenten-Friedhöfe des Alexander-Newskij-Klosters in St. Petersburg.13https://ru.wikipedia.org/wiki/Александро-Невская_Лавра. 1713 wurde dort außerhalb der Klostermauern der Lasarew-Friedhof angelegt. Mit Erlaubnis des Zaren durften vermögende Bürger der Stadt hier ihre letzte Ruhestätte einkaufen. Hier liegen Mitstreiter Zar Peters (Feldmarschall Boris Scheremetew), aber auch Dichter (Lomonossow, Fonwisin), Architekten (Quarenghi, Rossi, Thomas de Thomon, dieser 1955 vom Petersburger „Smolensker Friedhof“ umgebettet) und der Staatsmann Sergej Witte. 1918 wurden die Bestattungen eingestellt, der Friedhof blieb unzugänglich. 1932 wurde er Teil des Leningrader Skulpturen-Museums.

Da der Platz für Beerdigungen schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr ausgereicht hatte, wurde ihm gegenüber der Tichwin-Friedhof 1823 – ebenfalls außerhalb der Klostermauern – eingerichtet, der die Geistes- und Kunstgrößen der Petersburger Epoche aufnahm: hier liegen Russlands bedeutendste Komponisten (Tschaikowski, Mussorgski, Balakirew, Borodin; der Komponist Michail Glinka war im Februar 1857 in Berlin gestorben und zunächst auf dem Berliner Dreifaltigkeitsfriedhof beerdigt, aber noch im selben Jahr auf den Tichwin-Friedhof umgebettet worden) und der Schriftsteller Dostojewski. Ungewöhnlich ist, dass nach seinem Tod 1909 auch der russische Verlierer der Seeschlacht bei Tsuschima im Russisch-Japanischen Krieg, Admiral Sinowi Roschestwenski hier seine Ruhestätte fand.

Dieser Friedhof wurde bis in die frühen 1930er Jahre – auch für Umbettungen von Prominenten – genutzt, von 1935 bis 1937 wurde er ebenfalls zu einem Teil des Museums für städtische Skulpturen umgestaltet (russ.: Nekropol’ masterov isskustv, Nekropole der Meister der Künste). In der späten Sowjetepoche kam es noch einmal zu Prominenten-Bestattungen, so 1966. 1972 wurden die Gebeine des 1936 in Paris verstorbenen Komponisten Alexander Glasunow in die Nekropole überführt, 1989 als letzter der sowjetische Regisseur Georgij Towstonogow dort bestattet. Damit ist diesem Prominenten-Friedhof seit der späten Zarenzeit und über die Sowjetära die Rolle eines Nationalfriedhofs zugewiesen, allerdings faktisch ohne militärische Helden oder Prominente.14Allerdings sind in der Zwischenkriegszeit Sowjetmilitärs auf dem Friedhof innerhalb der Klosteranlage bestattet worden. Dazu Malyševa, Svetlana: „Na miru krasna“. Instrumentalizacija smerti v Sovetskoj Rossii (‚In der schönen Welt‘. Die Instrumentalisierung des Todes in Sowjetrussland). Moskau 2019: Novyj chronograf, 363 f. („kommunističeskie ploščadki“ – „kommunistische Abteilungen“ auf bestehenden Friedhöfen).

1724 waren die in einer Kirche zu Wladimir, Residenz der Großfürsten von Wladimir, bestatteten Gebeine des namengebenden Großfürsten Alexander Newskij (1220–1263) in die neu erbaute Eparchialkirche des Klosters überführt worden und damit dem Ort auch eine nationale Bedeutung zugewiesen. 1547 wurde er heilig gesprochen und zählt seitdem zu den wichtigsten nationalen Symbolen Russlands.15Schenk, Frithjof B.: Aleksandr Nevskij. Heiliger – Fürst – Nationalheld. Eine Erinnerungsfigur im russischen kulturellen Gedächtnis (1263–2000) (Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 36). Köln et al. 2004: Böhlau. Die Tradition, berühmte Russen auf historischen Klosterfriedhöfen der Hauptstädte St. Petersburg und vor allem in Moskau zu bestatten16S. dazu die Wikipedia-Einträge etwa für: Danilovskij monastyr’, Donskoj monastyr’, Novodevičij monastyr’, Novospasskij monastyr’., wurde nach dem Ende der Sowjetunion 1992 wieder aufgenommen. So ist etwa Alexander Solschenizyn (1918–2008) neben dem Historiker Wassilij O. Kljutschewskij (1841–1911) auf dem Friedhof des Donskoj-Klosters zu Moskau bestattet, der Grablegen einiger Prominenter vor allem der Petersburger Epoche (1700–1917) umfasst.17Dorthin wurden auch die weißen Bürgerkriegsgeneräle Anton I. Denikin (1872–1947) im Jahre 2005 und Wladimir O. Kappel (1883–1920) im Jahre 2007 umgebettet. Denikin war in den USA, Kappel in China (Charbin) begraben.

Ein weiteres Beispiel sind die Gräber innerhalb des Neujungfrauen-Klosters in Moskau, auf dem als Prominentester der siegreiche General des Ersten Weltkriegs, Alexej Brussilow dort 1926 begraben wurde. Das seit 1511 bestehende Kloster spielte bis zur Verlegung der Hauptstadt nach Petersburg 1713 eine wichtige Rolle in der Geschichte Moskowiens und wurde auch in der Sowjetzeit als nationaler Erinnerungsort geachtet, wenngleich Kloster und Kirchen seit 1922 zweckentfremdet und in den 1930er Jahren zu einem Museum umgestaltet wurden. 18https://ru.wikipedia.org/wiki/Новодевичий_монастырь. Innerhalb der Klostermauern wurden von 1511 bis 1918 Äbtissinnen und Nonnen beerdigt. Im 19. Jahrhundert kamen einige Generäle und Schriftsteller hinzu. Als weitere Prominente der russischen Geschichte wurden hier der Philosoph Wladimir Solowjow (1900) und der Kriegsminister und Militärreformer (Generalfeldmarschall) Dmitrij Miljutin (1912) bestattet. Dabei wurden rund 1900 Grablegen aufgelöst. Heute befinden sich nur noch 100 Grablegen dort. Außerhalb der Klostermauern liegt der Neujungfrauen-Friedhof, der in der Sowjetzeit die Eliten von Partei, Kunst, Wissenschaft und Kultur aufnahm, und zwar auch solche, die noch vor ihrem Tod im Staat verfemt oder geächtet wurden, etwa Nikita Chruschtschow (1894–1971).

4.3. Russlands erster Nationalfriedhof: gestörte Ruhe, Umwidmung, Umdeutungen

Ein neuer Anlauf wurde 1915 unternommen, als die russischen Verluste an der Ostfront größer geworden waren und sich eine längere Dauer des Krieges abzeichnete, als von allen Kriegsparteien angenommen worden war. Wurden die gefallenen Mannschaften in der Regel in Massengräbern in Frontnähe beerdigt19Malyševa: „Na miru krasna“, 2019, 42-73, zum Moskauer Brüderfriedhof, 76., so konnten reichere Familien und Angehörige von Offizieren eine Rückführung erwirken.20Rodin, Nikolaj V.: „Die Tätigkeit der Allrussischen Gesellschaft zum Gedenken an die Soldaten der russischen Armee in den Jahren des Großen Krieges: Eine Untersuchung auf der Grundlage russischer Archivalien“. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 63 (2015), 626-643. Rodin, Nikolaj V.: „Velikaja vojna 1914–1918 gg. i nacional’naja pamjat’ Rossii: proekty i realii“ (Der Große Krieg 1914-1918 und das nationale Gedenken Russlands: Projekte und Realien). In: Sergeev, Evgenij (Hg.): Velikaja vojna 1914–1918: Al’manach Rossijskoj associacii istorikov Pervoj mirovoj vojny: Rossija v Pervoj mirovoj vojne. Band 3. Moskau 2013: MBA Kvadriga, 109-118. Rodin, Nikolaj V.: „Repatriating the Remains of Russian Combatants during the Great War“. In: Fathi, Raomain  / Robertson, Emily (Hg.): Proximity and Distance. Space, Time and World War I. Victoria 2020: Melbourne University Press, 180-199. Im Februar 1915 wurde am nordwestlichen Außenbezirk von Moskau ein Areal für einen Krieger-Heldenfriedhof (heute im Stadtviertel Sokol südlich der Pestschanaja-Straße/Sandstraße) eingerichtet, auf dem auch in Moskauer Lazaretten verstorbene Verwundete und Kriegsgefangene bestattet wurden. Sein Architekt mit dem deutschen Namen P. I. Klein verband mit der Anlage die Hoffnung, dass zukünftige Generationen daraus Liebe zur Heimat und Patriotismus schöpfen würden.21Petrone, Karen: The Great War in Russian Memory. Bloomington/IN 2011: Indiana University Press, 1-4. Damit war dem Friedhof klar eine nationale Aufgabe zugewiesen.

Seine eigentliche Urheberin war die ältere Schwester der Zarin, Großfürstin Elisabeth Fjodorowna, geborene Prinzessin von Hessen-Darmstadt (1864–1918), die im Stadtviertel Samoskworetsche ein Frauenkloster (Martha-Marien-Stift) gründete und sich nach Kriegsbeginn für russische Verwundete und Kriegsgefangene der Mittelmächte engagierte.22Als Angehörige der Zarenfamilie wurde sie 1918 im Ural von den Bolschewiki grausam ermordet. Der sogenannte Brüderfriedhof23Kämpfer, Frank: „Vom Massengrab zum Heroen-Hügel: Akkulturationsfunktionen sowjetischer Kriegsdenkmäler“. In: Koselleck, Reinhard / Jeismann, Michael (Hg.): Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne. München 1994: Wilhelm Fink, 327-349 spricht passender von „Brudergräbern“ und „Kriegsfriedhöfen“. war in der Folge den Konjunkturen im Sowjetstaat und in der postsowjetischen Zeit unterworfen. 1916 gab es Planungen für ein Denkmal und ein Museum, die wegen der Revolution 1917 nicht umgesetzt wurden. Es gab Abteilungen für Rotkreuzschwestern, gefallene und verunglückte Piloten (darunter der Entente-Verbündeten), für Orthodoxe, Katholiken, Muslime und Juden, nicht aber für Evangelische. 1919 bestanden bereits weit über 18.000 Grablegen auf etwa 25 Hektar, bis zu seiner offiziellen Schließung 1925 dürfte die Zahl seiner Gräber auf über 30.000 angewachsen sein.24Es bestanden Planungen, auch Beute-Kanonen aufzustellen und Schlachtfeldszenarien aufzubauen, was wegen der chaotischen Zeitumstände aber unterblieb. Petrone: The Great War in Russian Memory, 2011, 1 berichtet, dass Zehntausend Opfer des Roten Terrors auf dem Friedhof verscharrt wurden. Das würde die Anzahl der Toten in den 1920er Jahren auf etwa 30.000 bringen. Während des „roten Terrors“ von 1918 bis 1920 wurden Massenerschießungen auf dem Friedhof vorgenommen, unter deren Opfern auch hochrangige Geistliche und vier Minister der Zarenregierung waren. Wegen der sozialen, konfessionellen und ethnischen Vielfalt der bis zu diesem Zeitpunkt Bestatteten war der Friedhof weniger ein nationaler Gedenk- und Trauerort als vielmehr ein Friedhof für alle durch Gewalt umgekommene Opfer.25Dagegen die peinliche Auswahl eines polnischen unbekannten Soldaten für eine staatlich-nationale Zeremonie in Warschau 1925 nach Christoph Mick: „Der Kult um den Unbekannten Soldaten in der Zweiten Polnischen Republik“. In: Martin Schulze Wessel (Hg.): Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa. Stuttgart 2006: Franz Steiner, 181-200. Die zweite polnische Republik war ein multiethnischer Staat, im Weltkrieg hatten polnische Soldaten in den Armeen der historischen Teilungsmächte gekämpft. Damit erhielt das Territorium trotz seiner Entweihung in der Sowjetzeit sakrale Bedeutung.

Die hohen russischen Verluste an Menschenleben im Ersten Weltkrieg (ca. 1,8 Mio.) vervielfachten sich noch im anschließenden Bürgerkrieg. Sieben Jahre Krieg bewirkten eine Profanierung und Desakralisierung von Tod und Gefallenen, denen rituelle Trauerzeremonien für einzelne Gefallene, meist Offiziere und militärische Führer, in der Heimat seltsam gegenüberstanden. Am Ende des Bürgerkriegs hatten die siegreichen Bolschewiki die Deutungshoheit darüber, wer als Held „verewigt“ wurde und wer als Konterrevolutionär, Bandit oder unbedeutender Mitkämpfer dem Vergessen anheim zu fallen hatte.26Diese Deutungen unterlagen teilweise komplexen Prozessen: Dietrich Beyrau: Krieg und Revolution. Russische Erfahrungen. Leiden u.a. 2017: Schöningh/Brill, 226-255. Das hatte direkte Folgen für die Bestattung, den Totenkult und das Gedenken.27Malyševa: „Na miru krasna“, 2019, 42-133. Verkamen die bürgerlichen Friedhöfe der vorrevolutionären Zeit, so propagierte der Staat in den 1920er Jahren für die Massen die Kremierung. Die Kasaner Historikerin Swetlana Malyschewa spricht von „thanatologischem“ und seelenlosen Pragmatismus, während der kommunistische Totenkult faktisch zu einem „Kult der ‚Führer und Heroen‘ wurde. Den ‚gewöhnlichen‘ Bürgern empfahl die Propaganda „[…] die Kremierung, minimisierte Beerdigungen und preisgünstige Massengräber“.28Malyševa: „Na miru krasna“, 2019, 105 und 131, sowie 361 ff. zur Ausbildung einer „Bestattungs-Hierarchie“ in den 1920er Jahren. Vgl. auch Catherine Merridale: Steinerne Nächte. Leiden und Sterben in Russland. München 2001: Karl Blessing, 184 ff., die hervorhebt, dass die Kremierung auch der heimlichen Beseitigung der Leichen Erschossener diente.


Einzelbeerdigungen fanden noch bis in die 1940er Jahre auf dem Brüderfriedhof statt, Ende der 1940er wurde er endgültig geschlossen, 1948 begann die Bebauung seines östlichen Teils. 1989 wurde erstmals ein Holzkreuz zur Erinnerung an die Opfer des Ersten Weltkriegs aufgestellt. 1994 begann die Kampagne zur Wiedererrichtung des Friedhofs, die zunächst auf heftigen Widerstand stieß.29Janeke, Kristiane: „Die verdrängte Erinnerung. Zur Geschichte des Moskauer Brüderfriedhofs“. In: Groß, Gerhard P. (Hg.): Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Paderborn et al. 2006: Ferdinand Schöningh, 334-352. Die amerikanische Übersetzung: Janeke, Kristiane: „Suppressed Rememberances. On the History of the Moscow City Fraternal Cemetery”. In: Groß, Gerhard P. (Hg.): The Forgotten Front. The Eastern Theater of World War I. Lexington 2018: University Press of Kentucky, 287-304, enthält geringfügige Ergänzungen für die Zeit bis 2017. Petrone: The Great War in Russian Memory, 2011, 292-300. 1998 wurde eine Kapelle errichtet, zur Neunzigjährung des Beginns des Ersten Weltkriegs fand eine feierliche Zeremonie zur Eröffnung statt, zu der ranghohe Vertreter des Staates erwartet wurden und Delegationen der ehemaligen Verbündeten beiwohnten. Ein Obelisk adressiert die toten Helden als „Gefallene für die Freiheit und Unabhängigkeit der Heimat“. Ebenfalls 2004 wurde das Territorium zu einem „Memorial-Park-Komplex für die Helden des Ersten Weltkriegs“ erklärt und mit einem neuen Zaun umgeben. Zur Hundertjährung 2014 hatte sich in der staatlich-offiziösen Geschichtspolitik Russlands eine der marxistischen Sicht eines „imperialistischen Krieges“ entgegen gesetzte Perspektive durchgesetzt: die russischen Gefallenen des Ersten Weltkriegs waren nun als Vaterlandsverteidiger und Helden anerkannt. Allerdings betont Karen Petrone mit Bezug auf den über zwanzigjährigen Streit um den Friedhof, dass um 2010 auf Kompromissformeln zurückgegriffen wurde. War der Kriegsfriedhof 95 Jahre zuvor überkonfessionell und multiethnisch gewesen und hatte sogar verstorbene Kriegsgefangene aufgenommen, so wurde jetzt auf seinen russischen Charakter und das National-Patriotische verwiesen.30Petrone: The Great War in Russian Memory, 2011, 294 ff.

Als letzter Höhepunkt in der wechselhaften Geschichte des Friedhofs fand am 30. April 2015 die feierliche Bestattung des Oberbefehlshabers der russischen Armee im Ersten Weltkrieg, Großfürst Nikolaj Nikolajewitsch des Jüngeren (1856–1929) und seiner montenegrinischen Frau auf dem Brüderfriedhof statt, die zunächst 1929 und 1935 im südfranzösischen Cannes bestattet worden waren. 2014 wurden Verhandlungen zur Umbettung des Großfürsten angebahnt. Im Ersten Weltkrieg wurde der Ort nicht nur als Kriegsfriedhof, sondern als nationaler Heldenfriedhof angesehen.31Ähnliche Soldaten-Heldenfriedhöfe des Ersten Weltkriegs gab es auch in anderen Städten des europäischen Russland. Der in Riga hat sich bis heute erhalten. Durch die Massenerschießungen und -beerdigungen während der Bürgerkriegszeit erhielt er eine zusätzliche sakrale Weihe, die in den 1990er Jahren dem Ort eine nationale Bedeutung verlieh, ohne dass aber die Erschießungen der frühen Sowjetzeit heute thematisiert werden: Nach Definition handelt es sich ausdrücklich um heroische Kriegstote des Ersten Weltkriegs. Die Geistlichen, die zarischen Minister und bestatteten konterrevolutionären Junker, die der Oktoberrevolution in Moskau Widerstand leisteten, werden nicht angesprochen. Auch der im französischen Exil verstorbene Großfürst, der in der Julikrise 1914 der Kriegspartei angehörte, war kein Opfer oder gar Märtyrer des Ersten Weltkriegs. Im Falle des Brüderfriedhofs liegen massive Umdeutungen vor, die wohl nicht zuletzt durch Kompromisse mit den Friedhofsgegnern zustande kamen.

Andererseits erhebt sich hier die Frage, warum der zarische General Alexej Brussilow (1853–1926) nicht vom Neujungfrauen-Kloster auf den wiederbegründeten Friedhof des Ersten Weltkriegs umgebettet wurde. Die Antwort scheint in der bis heute ambivalenten sowjetischen Sicht auf den Feldherrn zu liegen. Nachdem er sich noch in der Spätphase des Bürgerkriegs der Sowjetmacht anschloss, konnte er keine großen Verdienste für den jungen Staat vorweisen, und seine Bestattung im März 1926 war eine eigentümlich zwiespältige Angelegenheit: Zwar billigte ihm das Regime ein Staatsbegräbnis zu, doch der gläubig-orthodoxe General, der sich vor seinem Tod seine Beerdigung im Neujungfrauen-Kloster erbeten hatte, wurde innerhalb der Klostermauern kirchlich durch einen Priester begraben, während die Ehrenabteilung der Roten Armee außerhalb der Mauern ihren Ehrensalut abschoss.32Petrone: The Great War in Russian Memory, 2011, 60-67 und 120. Brussilows Konjunkturen waren auch bedingt durch die Umstände der Publikation seiner Memoiren.

Vielfache Umbettungen nach dem Ende der Sowjetunion, allen voran der Gebeine der ermordeten Zarenfamilie vom Ural nach Petersburg im Beisein des Staatspräsidenten Boris Jelzin im Juli 1998, haben seitdem die nationale und heroische Bedeutung solcher Grablegen im öffentlichen Bewusstsein erhöht. Die 1918/19 ermordeten Mitglieder der Zarendynastie wurden von der russisch-orthodoxen Kirche selig- und heiliggesprochen. – In Petersburg–Petrograd wurden 1917 auf dem Marsfeld die in der Februarrevolution umgekommenen Kämpfer feierlich bestattet.33Malyševa: „Na miru krasna“, 2019, 89-93. Petrone: The Great War in Russian Memory, 2011, 58 hält die „demokratisch“-heroischen Massenbegräbnisse der Revolutionsopfer auf dem Petersburger Marsfeld und an der Kremlmauer für eine Ausnahme in der frühsowjetischen Gedenkkultur. Damit zeichnete sich früh die Möglichkeit eines patriotischen Synkretismus auf sowjetischen und postsowjetischen Helden- und Nationalfriedhöfen ab. Das ist auch an der weiteren sowjetischen Einschätzung Brussilows in den Jahren des Zweiten Weltkriegs abzulesen, in denen der General neben älteren zarischen Militärhelden (Suworow, Kutusow, Nachimow) kurzzeitig wieder zu Ehren kam.34Petrone: The Great War in Russian Memory, 2011, 220-224 und 282 f. Allerdings wurde kein Historienfilm über Brussilow gedreht.


4.4. Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg

In der Zwischenkriegszeit sind bei Nationalfriedhöfen zwei stark gegenläufige Entwicklungen in Bestattung, Gedenken und Totenkult zu beobachten. Während im nichtkommunistisch-bürgerlichen Raum durch die Erfahrung des Weltkrieges Gedenken und Totenkult eine Ausweitung in historischen Traditionen erfuhren (Soldatenfriedhöfe, Kriegerdenkmale, „Beinhäuser“, Ossarien), begann durch den Personenkult um den Staatsgründer Wladimir Lenin eine heroische Hierarchisierung. Nach seinem Tod wurde er einbalsamiert und in einer feierlichen Zeremonie in einem provisorisch errichteten Holz-Mausoleum nahe der Kremlmauer auf dem Roten Platz bestattet. 1929/30 wurde dann das heute bestehende konstruktivistisch-monumentale Gebäude aus rotem Granit errichtet, in dem seit 1953 der ebenfalls einbalsamierte Stalin in einem Glassarg neben Lenin lag.35Es entbehrt nicht einer historischen Ironie, dass der Architekt des konstruktivistischen Mausoleums, Alexej Schtschusew (1873–1949), 1915/17 die Verklärungskirche des Brüderfriedhofs in „altrussischem“ Stil und 1908/09 das Martha-Marienstift der Großfürstin Elisabeth Fjodorowna erbaut hatte. Petrone: The Great War in Russian Memory, 2011, 36 f. und 40. Damit wurde eine heroische Tradition begründet, die sich mit Grablegen großer Partei- und Militärführer des Sowjetstaats an der östlichen Kremlmauer fast bis an sein Ende fortsetzte.36Zur Kremlmauer als sowjetisches Heldendenkmal http://ru.wikipedia.org/wiki/Некрополь_у_Кремлевской_стены. Erst fünf Jahre nach Chruschtschows Enthüllungen von Stalins Verbrechen auf dem XX. Parteitag (1956) wurde Stalins Leichnam 1961 aus dem Mausoleum entfernt und an der Kremlmauer beerdigt. Der vorletzte Generalsekretär der KPdSU, Konstantin Tschernenko (1911–1985) wurde als letzter an der Kremlmauer beigesetzt. Dabei waren die sowjetische Gedächtnispraxis und Gründungsmythen in der russischen Orthodoxie verwurzelt.37Petrone: The Great War in Russian Memory, 2011, 40.

Der „Große Vaterländische Krieg“ der Sowjetunion von Juni 1941 bis Mai 1945 brachte für Frontsoldaten und Teile der Hinterlandsbevölkerung wiederum einen Rückfall in die anonyme, feierlose und unrituelle Massenbestattung. Die hohen Verluste seit Kriegsbeginn und der Durchhaltewillen des Regimes bedingten die Verheimlichung der Verluste vor der eigenen Bevölkerung, die erst lange nach Kriegsende zugegeben wurden. Auch die Verschleierung von – oftmals anonymen – Massengräbern hatte eine Tradition, die aus der Verfolgung von Regime-Gegnern seit 1918 herrührte. Beerdigungen von Gefallenen und Verstorbenen wurden bis weit in die 1950er Jahre hinein schlicht, oft sogar würdelos vollzogen, freilich mit Ausnahme der politischen und militärischen Führer. Der 1960 im Norden Leningrads eingeweihte Massenfriedhof „Piskarjow“ („Piskarёvskij memorial’nyj ansambl’“) für die Opfer der Blockade ist einer der frühesten Kriegsfriedhöfe, der zwar weihevoll ausgestaltet aber kein Nationalfriedhof ist, sondern ein Gedenk- und Trauerort für Opfer. Wie andere historische Gedenkstätten in Kiew und Wolgograd enthält er eine überlebensgroße Bronzeskulptur der Mutter-Heimat (russ.: Mat’-rodina).38Dazu Makhotina, Ekaterina, Philipp Bürger: „Making (Monumental) Sense of War: Memorials of the ‚Great Patriotic War’ in the Soviet Union and in Post-Soviet Russia“. In: Hausmann, Guido / Sklokina, Iryna (Hg.): The Political Cult of the Dead in Ukraine. Traditions and Dimensions from the First World War to Today. Göttingen 2021: Brill/V&R unipress, 197-222. Demgegenüber wuchs sich in Moskau in der späten Sowjetzeit der Neujungfrauen-Friedhof (südlich an das Klostergelände anschließend) zu einem Vorzeigefriedhof der Größen des Sowjetstaats aus. C. Merridale bezeichnet die 1960er und 1970er Jahre als eine „Orgie des Gedenkens an den Krieg“, obwohl unter Breschnew wieder zahlreiche Kirchen geschlossen und die Religion verfolgt wurden.39Merridale: Der Kreml, 2014, 373, 378. Guido Hausmann stellt fest, dass der politische Totenkult erst seit den 1960er Jahren an Bedeutung gewann und seitdem auf den Rotarmisten fokussierte.40Hausmann, Guido: „Die unfriedliche Zeit. Politischer Totenkult im 20. Jahrhundert“. In: Hettling, Manfred / Echternkamp, Jörg (Hg.): Gefallenengedenken im globalen Vergleich. Nationale Tradition, politische Legitimation und Individualisierung der Erinnerung. München 2013: Oldenbourg, 413-439, hier 436.

Nach dem Ende der Sowjetunion konnte Religiosität und Konfession nicht nur uneingeschränkt ausgeübt werden, die russische Orthodoxie erfuhr sogar starken Zulauf und eine nationale Wiederbelebung. Alte Klöster und Kirchen, in der Sowjetzeit zweckentfremdet etwa zu Museen des Atheismus, und entweiht, wurden der Kirche zurückgegeben, restauriert oder sogar neu errichtet (etwa Konstantin Thons Christ-Erlöser-Kirche in Moskau, 1997 neu geweiht). Moskauer Klöster erlebten seit 2000 sogar die Übertragung von Reliquien und Leichnamen von Heiligen, z.T. aus dem Ausland.41Etwa das seit den 1920er Jahren besonders entweihte Neuerlöser-Kloster, wohin 2015 der heilige Märtyrer Demetrios von Saloniki (gest. um 306 n. Chr.) aus Griechenland umgebettet wurde. Der Soldatenmärtyrer war in Russland schon vor 1914 kanonisiert. S. Beyrau: Krieg, 135. Das Kloster war in den 1920er Jahren eines der „Erschießungs-Klöster“ und Gefängnis. Mit der Rückkehr zum religiösen Umgang mit Sterben, Tod und Gedenken ging ein heroisierender Nationalismus einher, der unter Wladimir Putin seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. So gab es in den 1990er Jahren erste Planungen für einen ganz neuen Nationalfriedhof im Norden Moskaus, außerhalb des Autobahnrings.

4.5. Der Föderale militärische Memorial-Friedhof in Mytischtschi-Sgonniki

Das dafür ausersehene Gelände hat keinen historischen Bezug und war eher unglücklich ausgesucht, geschuldet u.a. der rasch in die Außenbezirke wachsenden Millionenmetropole. Erst 2003 wurde mit der Anlage tatsächlich begonnen. Sie orientierte sich architektonisch nach dem US-Nationalfriedhof Arlington südlich von Washington, der 1864 zunächst als reiner Soldatenfriedhof nahe von Schlachtfeldern des Bürgerkriegs angelegt wurde. Erst 1914 konnten die besiegten Konföderierten in Arlington ein eigenes Denkmal für ihre Gefallenen aufstellen, und erst seit jenem Datum ist die riesige Anlage als Nationalfriedhof anzusprechen.42https://de.wikipedia.org/wiki/Nationalfriedhof_Arlington. Heute befinden sich Grablegen verschiedenster Kategorien von Toten dort, sodass es sich längst nicht mehr vorrangig um einen Soldaten- oder Kriegsfriedhof handelt.

Arlington National Cemetery
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Erläuterung

Am Memorial Day, der jedes Jahr am letzten Montag im Mai zu Ehren der für die Nation Gefallenen begangen wird, werden die Gräber in Arlington mit Flaggen geschmückt.

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Erläuterung: Am Memorial Day, der jedes Jahr am letzten Montag im Mai zu Ehren der für die Nation Gefallenen begangen wird, werden die Gräber in Arlington mit Flaggen geschmückt.

Der Moskauer Föderale militärische Memorial-Friedhof war 2013 endlich fertiggestellt und wurde eingeweiht. Er weist eine Verengung und strenge Auswahl von Totenkategorien auf, die auf ihm bestattet werden können.43Gabowitsch, Mischa: „Russlands Arlington? Der Föderale Militärische Gedenkfriedhof bei Moskau“. In: Osteuropa 67 (2017), 25-59. Der Autor bespricht auch andere nationale Gedenkorte Moskaus, die teilweise erst nach dem Ende der Sowjetunion, dafür aber äußerst pompös errichtet wurden (Verneigungshügel, Siegespark am Katharinenpark). Vgl. auch https://ru.wikipedia.org/wiki/Федеральный_военный_мемориал_«Пантеон_защитников_Отечества». Die heroische Hierarchisierung ist genau festgelegt: Helden der Sowjetunion und Helden der Russischen Föderation, Ordensträger in absteigender Stufung, danach Veteranen des Zweiten Weltkrieges („Großer Vaterländischer Krieg“), Präsidenten der UdSSR und der Russischen Föderation (Gorbatschow, Jelzin, Dmitri Medwedjew), dann Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets, des Ministerrats der UdSSR, Regierungsmitglieder der UdSSR und der Russischen Föderation, danach Marschälle, nach diesen Generäle/Admiräle, dann Nobelpreisträger, Preisträger der Sowjetunion und der Russischen Föderation. Ihnen folgen die Inhaber anderer sowjetischer und russländischer Ehrentitel. Der Staatspräsident kann über die Aufnahme anderer Personen entscheiden. Seit 2013 wird die Umbettung der an der Kremlmauer Bestatteten diskutiert. Die meisten Toten dieser Kategorien erlitten bzw. erleiden keinen heroischen Tod, sondern werden paradoxerweise wie die bürgerlichen Prominenten westlicher Friedhöfe allenfalls für ihre Leistungen und Taten geehrt.44Dazu Sonderforschungsbereich 948: „Tod und Sterben“. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 31.05.2021. DOI: 10.6094/heroicum/tsd1.1.20210531: „Aufgrund dieser stabilisierenden Funktionen ist der heldische Tod nicht selten ein Ziel politischer Instrumentalisierung und Inszenierung. So können politische Akteure und Institutionen sich selbst zum ‚höheren Gut‘ erklären […]. Die Wirksamkeit der Inszenierung wird noch gesteigert, wenn sich geeignete Präfiguranten für den heldischen Tod identifizieren lassen“. Diese extreme Hierarchisierung übertrifft noch die kirchlich-liturgische Hierarchisierung in der Orthodoxie und steht im krassen Gegensatz zu „organisch“ gewachsenen Nationalfriedhöfen wie dem in Arlington.

Zwar soll auf dem Nationalfriedhof anhand von Denkmalen an Russlands militärische Opfer seit Alexander Newskijs Sieg über den Deutschen Orden am Peipussee 1242 und bis in die hybriden Kriege der heutigen Tage erinnert werden („panhistorischer Militarismus“), doch urteilte 2017 Mischa Gabowitsch:

„Es ist kein einziger nach 1950 Geborener dabei – und niemand, der durch die militärischen Konflikte oder zahlreichen Armee-Unfälle der letzten Jahre sein Leben ließ. [Es] handelt […] sich beim FMGF [Föderalen Militärischen Gedenkfriedhof] also bislang um einen Amtsfriedhof für die Leitungsebene des Verteidigungsministeriums, oder, zugespitzt gesagt, einen Friedhof der Generäle.“45Gabowitsch: „Russlands Arlington?“, 2017, 55.

Die sowjetischen Afghanistan-Kämpfer haben keine Chance, hier bestattet zu werden, gefallene Soldaten jenes Krieges wie der der Tschetschenien-Kriege wurden nach sowjetischer Tradition möglichst verheimlicht und oftmals nicht auf einem Soldatenfriedhof bestattet. Der bislang prominenteste Tote ist der Erfinder der gleichnamigen Maschinenpistole Michail T. Kalaschnikow (1919–2013), der praktischerweise im Jahr der Einweihung des Friedhofs starb. Seine 1944 entwickelte Maschinenpistole („AK-47“) gewann nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Stellvertreterkriegen und in Entwicklungsländern auch im Ausland einen großen, in westlichen Ländern eher negativen Ruf.46https://ru.wikipedia.org/wiki/Калашников,_Михаил_Тимофеевич. Neben zahlreichen sowjetischen und russischen Orden erhielt Kalaschnikow nach der Stiftung des „Ordens des Heiligen [blagovernyj – „glaubenstreuen“] Großfürsten Dimitrij Donskoj“ im Jahre 2004 auch diesen Orden der russisch-orthodoxen Kirche. Auch diese Bestattung unterstreicht die symbolische und semantische Disparität der Gesamtanlage. Obwohl architektonisch stark nach dem Vorbild Arlington gestaltet, ist der FGMF in seiner Art völlig anders ausgerichtet und widerspricht zumindest dem westlichen Verständnis eines Nationalfriedhofs. Dieses Konstrukt von oben soll für 200 Jahre die Funktion eines Nationalfriedhofs erfüllen. Am 5. Mai 2021 verfügte der russische Verteidigungsminister seine Umbenennung in „Föderales Militärmemorial ‚Pantheon der Verteidiger des Vaterlands‘“.

Föderaler Militärischer Memorial-Friedhof bei Moskau
Föderaler Militärischer Memorial-Friedhof bei Moskau
Föderaler Militärischer Memorial-Friedhof bei Moskau
Föderaler Militärischer Memorial-Friedhof bei Moskau
Glockenbogen und „Kremlmauer“, dahinter die „Präsidentenallee“ des Bestattungsbereichs sowie die Pietà mit Ewiger Flamme und Amphitheater
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Urheberrechtlich geschütztes Foto. Nutzung mit freundlicher Erlaubnis von Mischa Gabowitsch.

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Foto von Mischa Gabowitsch, 2013

Föderaler Militärischer Memorial-Friedhof bei Moskau
Glockenbogen und „Kremlmauer“, dahinter die „Präsidentenallee“ des Bestattungsbereichs sowie die Pietà mit Ewiger Flamme und Amphitheater
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Das Programm, fast nur höhere militärische Ränge, darunter auch reine Schreibtischhelden des Verteidigungsministeriums dort zu versammeln, schränkt die Bedeutung als Nationalfriedhof ein. Das gibt Anlass, über die Perspektiven des Ortes als nationaler Gedächtnisort nachzudenken: Möglicherweise schließt die politisch-semantische Reichweite seiner Bestimmung sogar aus, dass er in Zukunft tatsächlich ein nationaler Gedenkort wird, ungeachtet der zukünftigen Prominenz, die Wladimir Putin dem Ort nach seinem Tod mit seiner eigenen Bestattung zu verleihen gedenkt. Die Aussicht, einen Nationalfriedhof zu schaffen, ist auch durch die im Riesenreich Russland dezentrale Verortung von Heldengedenkstätten eingeschränkt. Folgt man der Epochalisierung der russischen Geschichte, so wäre es immerhin möglich, dass Sgonniki für die begonnene postsowjetische Epoche bzw. für die Russische Föderation eines Tages eine solche Bedeutung gewinnt: für die Selbstüberhöhung und als Medium staatlicher Propaganda, mit der sich das Land identitär vom Westen abgrenzt. Außerdem ist ein gegenläufiger Trend zur „Demokratisierung“ von Sterben und Tod festzustellen, wie sie Reinhart Koselleck beschrieben hat.47Koselleck, Reinhart: „Kriegerdenkmale als Identifizierungen der Überlebenden“. In: Marquard, Odo / Stierle, Karlheinz (Hg.): Identität. München 1979: Fink, 255-276.

4.6. Fazit

Während in westlichen Ländern seit Mitte des 19. Jahrhunderts der Typus Nationalfriedhof in einem weit gefassten Sinn eher beiläufig aus älteren Begräbnisanlagen hervorging, indem eine Konzentration von solchen prominenten Toten stattfand, die eine Agency in dem Land oder der Stadt ihres Wirkens aufweisen, ist der im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eingerichtete russische Föderationsfriedhof bei Moskau speziell als Nationalfriedhof konzipiert und nicht auf einem Territorium errichtet, das schon zuvor zur Totenbestattung oder auch nur als Gedenkort genutzt wurde. Damit fehlt Sgonniki Historizität und ⟶Sakralität, wie sie andere bedeutende Gedenkorte Russlands aufweisen.

Ein wichtiges Merkmal des russischen Nationalfriedhofs seit der Oktoberrevolution unterscheidet ihn von westlichen Friedhöfen: Häufige Umbettungen, um einen neuen Gedenk-Friedhof zu sakralisieren und symbolisch aufzuladen, sind hier wesentlich und unterstreichen die Konjunkturen des Heroischen auch im postkommunistischen Land. Anstelle der bürgerlichen Grablegen im Westen, die in der Regel „letzte Ruhestätten“ im wörtlichen Sinn sind, waren Umbettungen in der kommunistischen Zeit und nun in der Russischen Föderation politischen Konjunkturen unterworfen, kaum dagegen technischen Umständen.48Im nationalen Identitätskurs der Ukraine scheinen Umbettungen und Um- bzw. Neudeutungen weniger ausgeprägt zu sein, und zwar seit der späten Sowjetzeit. Das ist umso bemerkenswerter, als eine ukrainische nationale Identität sowjetischerseits und heute von der Führung der Russischen Föderation geleugnet oder marginalisiert wurde. Dazu Iryna Sklokina: „Commemorating the Glorious Past, Dreaming of the Happy Future: WW II Burial Sites and Monuments as Public Places in Post-War Ukraine“. In: Hausmann, Guido / Sklokina, Iryna (Hg.): The Political Cult of the Dead in Ukraine. Traditions and Dimensions from the First World War to Today. Göttingen 2021: Brill/V&R unipress, 69-96 und andere Beiträge des Sammelbands. Zu Neudeutungen nach 1991 Guido Hausmann: „The Political Cult of the Dead in Ukraine. An Introduction“. In: Hausmann, Guido / Sklokina, Iryna (Hg.): The Political Cult of the Dead in Ukraine. Traditions and Dimensions from the First World War to Today. Göttingen 2021: Brill/V&R unipress, 9-26, der die enge Verbindung von militärischer und politischer Sphäre in der ukrainischen Tradition betont (hier S. 16). Den Umbettungen gegenüber stehen massive Umdeutungen durch Verschweigen. Neben einem „integrativen patriotischen Synkretismus“ findet sich nationale „Amnesie“, wie an den Beispielen der beiden russischen Nationalfriedhöfe erkennbar: Der Moskauer Brüderfriedhof ist heute ausschließlich den russischen Kriegstoten des Ersten Weltkrieges als Vaterlandsverteidigern gewidmet, der Föderale Memorialfriedhof soll nicht der Aufnahme von gefallenen Kämpfern hybrider Kampfeinsätze der Russländischen Föderation dienen. Ein weiteres Merkmal geht mit beiden Moskauer Nationalfriedhöfen einher: ihr militärisch-patriotischer Charakter, wobei der Brüderfriedhof offenbar stärker heroisch konnotiert ist.49Jüngst ist aus gegebenem Anlass auf die enge Verbindung von Militarismus und Patriotismus in der Russischen Föderation hingewiesen worden. Damit unterscheiden sich russische Nationalfriedhöfe von „bürgerlichen“. Katri Pynnömieni: Nexus of Patriotism and Militarism in Russia: A Quest for Internal Cohesion. Helsinki 2021: Helsinki University Press.

Der russische Nationalfriedhof scheint ein besonders lehrreiches Beispiel zu bieten, weil sehr verschiedene Akteure und Interessen hier zum Zuge kommen, die ein seltsames Amalgam von Nations- und Heldenkonzepten manifestieren. Haben nationale Gedenkfriedhöfe ohnehin eine große erinnerungspolitische Bedeutung, weil sie für verschiedene Gruppen je eigene Anschlussmöglichkeiten bieten, so scheint im russischen Fall gerade nicht die Nation als Ganzes gemeint zu sein.

Kurz vor der Errichtung des Komplexes am Moskauer Verneigungsberg äußerte Jan Kusber Skepsis gegenüber Versuchen, nationale Gedächtnisorte im postsowjetischen Russland zu schaffen.50Kusber, Jan: „Sowjetmacht und Heiliges Russland. Moskau als Ensemble von Gedächtnisorten“. In: Jaworski, Rudolf  / Kusber, Jan / Steindorff, Ludwig (Hg.): Gedächtnisorte in Osteuropa. Vergangenheiten auf dem Prüfstand (Kieler Werkstücke, Reihe F: Beiträge zur osteuropäischen Geschichte, 6). Frankfurt/M. u.a. 2003: Peter Lang, 97-115. Diese Skepsis beruhte auf dem Besuch des überhöhten Gedenkortes, der bis in das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts monumentalisch ausgebaut wurde. Unter Wladimir Putin ist aber ein patriotischer Synkretismus aufgekommen, der zarische mit sowjetischen Emblemen verbindet und einen heroischen Nationalismus beschwört.


5. Einzelnachweise

  • 1
  • 2
    Marquart, Benjamin: „Grand homme“. In. Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Auernhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 01.01.2018. DOI: 10.6094/heroicum/grand-homme.
  • 3
    Rader, Olaf B.: Grab und Herrschaft. Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin. München 2003: C. H. Beck, 246.
  • 4
    Feitscher, Georg: „Erinnerung und Gedächtnis“. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 16.06.2021. DOI: 10.6094/heroicum/egd1.3.20210616.
  • 5
    https://de.wikpedia.org/wiki/Friedhof_der_Dorotheenstädtischen_und_Friedrichswerderschen_Gemeinden. Allerdings befinden sich auf anderen Berliner Friedhöfen wie dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde (Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg) und dem Waldfriedhof Dahlem (Roland Freisler) zahlreiche Grablegen Prominenter. Der „Südwestkirchhof“ in Berlin-Stansdorf enthält die Gräber von Heinrich Zille, Gustav Langenscheidt, Werner Siemens, Walter Gropius, der russisch-orthodoxe Friedhof in Tegel (seit 1893) die Gräber russischer Emigranten: Wladimir Nabokow, Wladimir Suchomlinow und Sergej Sasonow.
  • 6
    Pink, Johanna: „Nationalheld“. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 18.02.2020. DOI: 10.6094/heroicum/nd1.1.20200218. Hier wird der Nationalheld wesentlich durch heroischen Tod und eine militärisch-nationale Großtat definiert. Allerdings schränkt die Autorin ein, dass in vielen Staaten ein formalisierter Nationalheldenstatus nicht existiert und die Definition von Nationalheld gesellschaftlichen und medialen Diskursen überlassen bleibt.
  • 7
    Marquart: „Grand homme“: „Langlebigkeit und Nachhaltigkeit seiner Werke [waren] entscheidendes Kriterium für den Erfolg des Genies“. Dazu Heinzer, Felix / Leonhard, Jörn / von den Hoff, Ralf (Hg.): „Einleitung: Relationen zwischen Sakralisierungen und Heroisierungen“. In: Sakralität und Heldentum (= Helden – Heroisierungen – Heroismen, 6). Würzburg 2017: Ergon, 9-18, hier 10: soziale Distinktion, Exzeptionalität und Exemplarität.
  • 8
    Der Moskauer Kreml wurde mit dem Aufstieg des Großfürstentums seit dem 14. Jahrhundert durch Bestattungen, Reliquienüberführung, als Herrscher- und Metropolitansitz politisch und sakral aufgewertet. Catherine Merridale: Der Kreml. Eine neue Geschichte Russlands. Frankfurt/M. 2014: S. Fischer, 54-98 und passim zum Kreml als zentraler sakral-nationaler Gedächtnisort. Vgl. Sebastian Kempgen: Die Kirchen und Klöster Moskaus. Ein landeskundliches Handbuch (=Sagners Slavistische Sammlung, 21). München 1994: Verlag Otto Sagner. Dazu trug die über 70jährige Konzentration des kommunistischen Russland im Kreml-Komplex bis heute wesentlich bei. Zur Legitimation von „Herrschaft durch Leichen“, einschließlich von Umbettungen (translatio) vgl. Olaf B. Rader: „Neuer Sinn aus alten Knochen: Zur Konstruktion kollektiver Erinnerungen durch Gräberkulte“. In: Patrick Eiden et. al. (Hg.): Totenkulte. Kulturelle und literarische Grenzgänge zwischen Leben und Tod. Frankfurt/New York 2006: Campus Verlag, 23-33. Auch nach der Verlegung der Hauptstadt 1713 behielt Moskau als Ort des alten Russland (Moskowien) seine symbolisch-sakrale Bedeutung und blieb Krönungsort der Zaren.
  • 9
    https://ru.wikipedia.org/wiki/Неверовский,_Дмитрий_Петрович, im Juli 1912. Von den russischen Zeitgenossen wurde wohl übersehen, dass es sich um ein „schiefes“ Jubiläum handelte. Borodino war schon 1817 und 1837 ein nationaler Erinnerungsort. Vgl. Georges Nivat: Les sites de la mémoire russe. Bd. 1 Géographie de la mémoire russe. Paris 2007: Fayard, 321-323.
  • 10
    Plokhy, Serhii: „The City of Glory: Sevastopol in Russian Historical Mythology“. In: Journal of Contemporary History 35.3 (2000), 369-383. Ihm zufolge ging damit die moderne nationale Mythologisierung in Russland einher, was er anhand der heldenhaften Verteidigung Sewastopols im Krimkrieg darlegt.
  • 11
    Bei Borodino hatten auch Truppen der Rheinbundstaaten, etwa Sachsen und Bayern gekämpft. Offenbar wurden keine Delegationen aus diesen Ländern eingeladen, während die französische Militärmission nicht als Repräsentant des ehemaligen Gegners, sondern des zukünftigen Verbündeten in einem Krieg mit Deutschland behandelt wurde.
  • 12
    Vojna, politika, pamjat’. Napoleonskie vojny i Pervaja mirovaja vojna v prostranstve jubileev (Krieg, Politik, Erinnerung. Die napoleonischen Kriege und der Erste Weltkrieg in den Dimensionen der Jubiläen) (hg. von O. S. Poršneva, N. N. Baranov, V. N. Zemcov). Moskau 2020: ROSSPEN, 208-214. Die Hundertjahrfeier zu Borodino wurde nicht zuletzt zu Ehren des französischen Verbündeten mit weit größerem Aufwand betrieben als die russische Teilnahme an der Hundertjahrfeier der Völkerschlacht bei Leipzig ein Jahr später. Vgl. ebd., 274-276.
  • 13
  • 14
    Allerdings sind in der Zwischenkriegszeit Sowjetmilitärs auf dem Friedhof innerhalb der Klosteranlage bestattet worden. Dazu Malyševa, Svetlana: „Na miru krasna“. Instrumentalizacija smerti v Sovetskoj Rossii (‚In der schönen Welt‘. Die Instrumentalisierung des Todes in Sowjetrussland). Moskau 2019: Novyj chronograf, 363 f. („kommunističeskie ploščadki“ – „kommunistische Abteilungen“ auf bestehenden Friedhöfen).
  • 15
    Schenk, Frithjof B.: Aleksandr Nevskij. Heiliger – Fürst – Nationalheld. Eine Erinnerungsfigur im russischen kulturellen Gedächtnis (1263–2000) (Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 36). Köln et al. 2004: Böhlau.
  • 16
    S. dazu die Wikipedia-Einträge etwa für: Danilovskij monastyr’, Donskoj monastyr’, Novodevičij monastyr’, Novospasskij monastyr’.
  • 17
    Dorthin wurden auch die weißen Bürgerkriegsgeneräle Anton I. Denikin (1872–1947) im Jahre 2005 und Wladimir O. Kappel (1883–1920) im Jahre 2007 umgebettet. Denikin war in den USA, Kappel in China (Charbin) begraben.
  • 18
    https://ru.wikipedia.org/wiki/Новодевичий_монастырь. Innerhalb der Klostermauern wurden von 1511 bis 1918 Äbtissinnen und Nonnen beerdigt. Im 19. Jahrhundert kamen einige Generäle und Schriftsteller hinzu. Als weitere Prominente der russischen Geschichte wurden hier der Philosoph Wladimir Solowjow (1900) und der Kriegsminister und Militärreformer (Generalfeldmarschall) Dmitrij Miljutin (1912) bestattet.
  • 19
    Malyševa: „Na miru krasna“, 2019, 42-73, zum Moskauer Brüderfriedhof, 76.
  • 20
    Rodin, Nikolaj V.: „Die Tätigkeit der Allrussischen Gesellschaft zum Gedenken an die Soldaten der russischen Armee in den Jahren des Großen Krieges: Eine Untersuchung auf der Grundlage russischer Archivalien“. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 63 (2015), 626-643. Rodin, Nikolaj V.: „Velikaja vojna 1914–1918 gg. i nacional’naja pamjat’ Rossii: proekty i realii“ (Der Große Krieg 1914-1918 und das nationale Gedenken Russlands: Projekte und Realien). In: Sergeev, Evgenij (Hg.): Velikaja vojna 1914–1918: Al’manach Rossijskoj associacii istorikov Pervoj mirovoj vojny: Rossija v Pervoj mirovoj vojne. Band 3. Moskau 2013: MBA Kvadriga, 109-118. Rodin, Nikolaj V.: „Repatriating the Remains of Russian Combatants during the Great War“. In: Fathi, Raomain  / Robertson, Emily (Hg.): Proximity and Distance. Space, Time and World War I. Victoria 2020: Melbourne University Press, 180-199.
  • 21
    Petrone, Karen: The Great War in Russian Memory. Bloomington/IN 2011: Indiana University Press, 1-4.
  • 22
    Als Angehörige der Zarenfamilie wurde sie 1918 im Ural von den Bolschewiki grausam ermordet.
  • 23
    Kämpfer, Frank: „Vom Massengrab zum Heroen-Hügel: Akkulturationsfunktionen sowjetischer Kriegsdenkmäler“. In: Koselleck, Reinhard / Jeismann, Michael (Hg.): Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne. München 1994: Wilhelm Fink, 327-349 spricht passender von „Brudergräbern“ und „Kriegsfriedhöfen“.
  • 24
    Es bestanden Planungen, auch Beute-Kanonen aufzustellen und Schlachtfeldszenarien aufzubauen, was wegen der chaotischen Zeitumstände aber unterblieb. Petrone: The Great War in Russian Memory, 2011, 1 berichtet, dass Zehntausend Opfer des Roten Terrors auf dem Friedhof verscharrt wurden. Das würde die Anzahl der Toten in den 1920er Jahren auf etwa 30.000 bringen.
  • 25
    Dagegen die peinliche Auswahl eines polnischen unbekannten Soldaten für eine staatlich-nationale Zeremonie in Warschau 1925 nach Christoph Mick: „Der Kult um den Unbekannten Soldaten in der Zweiten Polnischen Republik“. In: Martin Schulze Wessel (Hg.): Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa. Stuttgart 2006: Franz Steiner, 181-200. Die zweite polnische Republik war ein multiethnischer Staat, im Weltkrieg hatten polnische Soldaten in den Armeen der historischen Teilungsmächte gekämpft.
  • 26
    Diese Deutungen unterlagen teilweise komplexen Prozessen: Dietrich Beyrau: Krieg und Revolution. Russische Erfahrungen. Leiden u.a. 2017: Schöningh/Brill, 226-255.
  • 27
    Malyševa: „Na miru krasna“, 2019, 42-133.
  • 28
    Malyševa: „Na miru krasna“, 2019, 105 und 131, sowie 361 ff. zur Ausbildung einer „Bestattungs-Hierarchie“ in den 1920er Jahren. Vgl. auch Catherine Merridale: Steinerne Nächte. Leiden und Sterben in Russland. München 2001: Karl Blessing, 184 ff., die hervorhebt, dass die Kremierung auch der heimlichen Beseitigung der Leichen Erschossener diente.
  • 29
    Janeke, Kristiane: „Die verdrängte Erinnerung. Zur Geschichte des Moskauer Brüderfriedhofs“. In: Groß, Gerhard P. (Hg.): Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Paderborn et al. 2006: Ferdinand Schöningh, 334-352. Die amerikanische Übersetzung: Janeke, Kristiane: „Suppressed Rememberances. On the History of the Moscow City Fraternal Cemetery”. In: Groß, Gerhard P. (Hg.): The Forgotten Front. The Eastern Theater of World War I. Lexington 2018: University Press of Kentucky, 287-304, enthält geringfügige Ergänzungen für die Zeit bis 2017. Petrone: The Great War in Russian Memory, 2011, 292-300.
  • 30
    Petrone: The Great War in Russian Memory, 2011, 294 ff.
  • 31
    Ähnliche Soldaten-Heldenfriedhöfe des Ersten Weltkriegs gab es auch in anderen Städten des europäischen Russland. Der in Riga hat sich bis heute erhalten.
  • 32
    Petrone: The Great War in Russian Memory, 2011, 60-67 und 120. Brussilows Konjunkturen waren auch bedingt durch die Umstände der Publikation seiner Memoiren.
  • 33
    Malyševa: „Na miru krasna“, 2019, 89-93. Petrone: The Great War in Russian Memory, 2011, 58 hält die „demokratisch“-heroischen Massenbegräbnisse der Revolutionsopfer auf dem Petersburger Marsfeld und an der Kremlmauer für eine Ausnahme in der frühsowjetischen Gedenkkultur.
  • 34
    Petrone: The Great War in Russian Memory, 2011, 220-224 und 282 f. Allerdings wurde kein Historienfilm über Brussilow gedreht.
  • 35
    Es entbehrt nicht einer historischen Ironie, dass der Architekt des konstruktivistischen Mausoleums, Alexej Schtschusew (1873–1949), 1915/17 die Verklärungskirche des Brüderfriedhofs in „altrussischem“ Stil und 1908/09 das Martha-Marienstift der Großfürstin Elisabeth Fjodorowna erbaut hatte. Petrone: The Great War in Russian Memory, 2011, 36 f. und 40.
  • 36
  • 37
    Petrone: The Great War in Russian Memory, 2011, 40.
  • 38
    Dazu Makhotina, Ekaterina, Philipp Bürger: „Making (Monumental) Sense of War: Memorials of the ‚Great Patriotic War’ in the Soviet Union and in Post-Soviet Russia“. In: Hausmann, Guido / Sklokina, Iryna (Hg.): The Political Cult of the Dead in Ukraine. Traditions and Dimensions from the First World War to Today. Göttingen 2021: Brill/V&R unipress, 197-222.
  • 39
    Merridale: Der Kreml, 2014, 373, 378.
  • 40
    Hausmann, Guido: „Die unfriedliche Zeit. Politischer Totenkult im 20. Jahrhundert“. In: Hettling, Manfred / Echternkamp, Jörg (Hg.): Gefallenengedenken im globalen Vergleich. Nationale Tradition, politische Legitimation und Individualisierung der Erinnerung. München 2013: Oldenbourg, 413-439, hier 436.
  • 41
    Etwa das seit den 1920er Jahren besonders entweihte Neuerlöser-Kloster, wohin 2015 der heilige Märtyrer Demetrios von Saloniki (gest. um 306 n. Chr.) aus Griechenland umgebettet wurde. Der Soldatenmärtyrer war in Russland schon vor 1914 kanonisiert. S. Beyrau: Krieg, 135. Das Kloster war in den 1920er Jahren eines der „Erschießungs-Klöster“ und Gefängnis.
  • 42
  • 43
    Gabowitsch, Mischa: „Russlands Arlington? Der Föderale Militärische Gedenkfriedhof bei Moskau“. In: Osteuropa 67 (2017), 25-59. Der Autor bespricht auch andere nationale Gedenkorte Moskaus, die teilweise erst nach dem Ende der Sowjetunion, dafür aber äußerst pompös errichtet wurden (Verneigungshügel, Siegespark am Katharinenpark). Vgl. auch https://ru.wikipedia.org/wiki/Федеральный_военный_мемориал_«Пантеон_защитников_Отечества».
  • 44
    Dazu Sonderforschungsbereich 948: „Tod und Sterben“. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 31.05.2021. DOI: 10.6094/heroicum/tsd1.1.20210531: „Aufgrund dieser stabilisierenden Funktionen ist der heldische Tod nicht selten ein Ziel politischer Instrumentalisierung und Inszenierung. So können politische Akteure und Institutionen sich selbst zum ‚höheren Gut‘ erklären […]. Die Wirksamkeit der Inszenierung wird noch gesteigert, wenn sich geeignete Präfiguranten für den heldischen Tod identifizieren lassen“.
  • 45
    Gabowitsch: „Russlands Arlington?“, 2017, 55.
  • 46
    https://ru.wikipedia.org/wiki/Калашников,_Михаил_Тимофеевич. Neben zahlreichen sowjetischen und russischen Orden erhielt Kalaschnikow nach der Stiftung des „Ordens des Heiligen [blagovernyj – „glaubenstreuen“] Großfürsten Dimitrij Donskoj“ im Jahre 2004 auch diesen Orden der russisch-orthodoxen Kirche.
  • 47
    Koselleck, Reinhart: „Kriegerdenkmale als Identifizierungen der Überlebenden“. In: Marquard, Odo / Stierle, Karlheinz (Hg.): Identität. München 1979: Fink, 255-276.
  • 48
    Im nationalen Identitätskurs der Ukraine scheinen Umbettungen und Um- bzw. Neudeutungen weniger ausgeprägt zu sein, und zwar seit der späten Sowjetzeit. Das ist umso bemerkenswerter, als eine ukrainische nationale Identität sowjetischerseits und heute von der Führung der Russischen Föderation geleugnet oder marginalisiert wurde. Dazu Iryna Sklokina: „Commemorating the Glorious Past, Dreaming of the Happy Future: WW II Burial Sites and Monuments as Public Places in Post-War Ukraine“. In: Hausmann, Guido / Sklokina, Iryna (Hg.): The Political Cult of the Dead in Ukraine. Traditions and Dimensions from the First World War to Today. Göttingen 2021: Brill/V&R unipress, 69-96 und andere Beiträge des Sammelbands. Zu Neudeutungen nach 1991 Guido Hausmann: „The Political Cult of the Dead in Ukraine. An Introduction“. In: Hausmann, Guido / Sklokina, Iryna (Hg.): The Political Cult of the Dead in Ukraine. Traditions and Dimensions from the First World War to Today. Göttingen 2021: Brill/V&R unipress, 9-26, der die enge Verbindung von militärischer und politischer Sphäre in der ukrainischen Tradition betont (hier S. 16).
  • 49
    Jüngst ist aus gegebenem Anlass auf die enge Verbindung von Militarismus und Patriotismus in der Russischen Föderation hingewiesen worden. Damit unterscheiden sich russische Nationalfriedhöfe von „bürgerlichen“. Katri Pynnömieni: Nexus of Patriotism and Militarism in Russia: A Quest for Internal Cohesion. Helsinki 2021: Helsinki University Press.
  • 50
    Kusber, Jan: „Sowjetmacht und Heiliges Russland. Moskau als Ensemble von Gedächtnisorten“. In: Jaworski, Rudolf  / Kusber, Jan / Steindorff, Ludwig (Hg.): Gedächtnisorte in Osteuropa. Vergangenheiten auf dem Prüfstand (Kieler Werkstücke, Reihe F: Beiträge zur osteuropäischen Geschichte, 6). Frankfurt/M. u.a. 2003: Peter Lang, 97-115.

6. Ausgewählte Literatur

  • Abramov, Aleksej S.: Pravda i vymysly o kremlevskom nekropole i Mavzolee. Moskau 2005: Eksmo.
  • Aden, Mareike: Ein pompöser Friedhof für Russlands Helden. Deutschlandfunk 15.12.2008. Online unter: https://www.deutschlandfunk.de/ein-pompoeser-friedhof-fuer-russlands-helden-100.html (Zugriff am 19.1.2022)
  • Aust, Martin: Die Schatten des Imperiums. Russland seit 1991. München 2019: Beck.
  • Beyrau, Dietrich: Krieg und Revolution. Russische Erfahrungen. Paderborn u.a. 2017: Schoeningh/Brill.
  • Chan-Magomedov, S. O.: Mavzolej Lenina. Istorija sozdanija i architektura. Moskau 1972.
  • Eremeeva, S. A.: Pamjati pamjatnikov. Praktika monumental’noj kommemoracii v Rossii XIX – načala XX v. Moskau 2015.
  • Gabowitsch, Mischa: „Russlands Arlington? Der Föderale Militärische Gedenkfriedhof bei Moskau“. In: Osteuropa 67.5 (2017), 25-59.
  • Hausmann, Guido / Iryna Sklokina (Hg.): The Political Cult of the Dead in Ukraine. Göttingen 2021: Brill/V & R unipress.
  • Hettling, Manfred / Echternkamp, Jörg (Hg.): Gefallenengedenken im globalen Vergleich. Nationale Tradition, politische Legitimation und Individualisierung der Erinnerung. München 2013: Oldenbourg.
  • Janeke, Kristiane: „Die verdrängte Erinnerung. Zur Geschichte des Moskauer Brüderfriedhofs“. In: Groß, Gerhard P. (Hg.): Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung (=Zeitalter der Weltkriege, 1). Paderborn et al. 2006, 335-352, in Englisch: Groß, Gerhard P. (Hg.): The Forgotten Front. The Eastern Theater of World War I 1914–1915. Lexington 2018: University of Lexington Press.
  • Katagoščina, M. V. / Zubova, N. L. (Hg.): Bratskoe kladbišče v Moskve, 1915–1924. Nekropol’: imennye spiski: slovar’-spravočnik. 2 Bde. Moskau 2013–2014: Izdatel’stvo Russkij mir.
  • Konradova, Natalja / Ryleva, Anna: „Helden und Opfer. Denkmäler in Russland und Deutschland“. In: Osteuropa 4-6.55 (2005), 347-365.
  • Koselleck, Reinhart / Jeismann, Michael (Hg.): Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne. München 1994: Fink.
  • Kotyrev, A. N.: Mavzolej V. I. Lenina. Proektirovanie i stroitel’stvo. Moskau 1971: Sovremennyj chudožnik.
  • Kotyrev, A. N.: Mavzolej V. I. Lenina. Tallinn 1989: Eesti raamat.
  • Malyševa, Svetlana Ju.: „Krasnyj Tanatos: nekrosimvolizm sovetskoj kul’tury“. In: Archeologija russkoj smerti. Moskau 2016, Nr. 2, 22-46.
  • Malyševa, Svetlana Ju.: „Der rote Thanatos: Nekrosymbolismus in der sowjetischen Kultur“. In: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2015, Berlin 2015, 181-191.
  • Malysheva, Svetlana: „Soviet Death and Hybrid Soviet Subjectivity: Urban Cemetery as a Metatext“. In: Ab Imperio 3 (2018) 351-384.
  • Merridale, Catherine: Der Kreml. Eine neue Geschichte Russlands. Frankfurt/M. 2014: S. Fischer.
  • Merridale, Catherine: Steinerne Nächte. Leiden und Sterben in Russland. München 2001: Karl Blessing.
  • Mochov, Sergej: Archeologija russkoj smerti: rynok ritual’nych uslug v sovremennoj Rossii. Moskau 2020: Common place.
  • Mosse, George: Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the World Wars. NY et al. 1990: Oxford University Press.
  • Nivat, Georges (Hg.): Les sites de la mémoire russe. Géographie de la mémoire russe. Paris 2007 und 2019: Fayard.
  • „O sostojanii mest massovych zachoronenij žertv političeskich repressij sovetskogo vremeni na territorii Rossii“. In: Rezul’taty issledovanij postojannoj komissii po istoričeskoj pamjati Soveta pri Prezidente RF po razvitiju graždanskogo obščestva i pravam čeloveka. Online unter: http://president-sovet.ru/files/b5/72/b572093c0a8df8ed29ddabf496287138.pdf (Zugriff am 19.1.2022)
  • Orlovskij, Deniel: „Velikaja vojna i rossijskaja pamjat’“. In: Smirnov, Nikolaj N. (Hg.): Rossija i Pervaja mirovaja vojna. Materialy meždunarodnogo naučnogo kollokviuma. St. Petersburg 1999: Bulanin, 49-57.
  • Petrone, Karen: The Great War in Russian Memory. Bloomington, IN 2011: Indiana University Press.
  • Pynnöniemi, Katri: Nexus of Patriotism and Militarism in Russia. A Quest for Internal Cohesion. Helsinki 2021: Helsinki University Press.
  • Rader, Olaf B.: Grab und Herrschaft. Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin. München 2003: C. H. Beck.
  • Rader, Olaf B.: „Neuer Sinn als alten Knochen. Zur Konstruktion kollektiver Erinnerungen durch Gräberkulte“. In: Totenkulte. Kulturelle und literarische Grenzgänge zwischen Leben und Tod. Frankfurt/New York 2006: Campus.
  • Rodin, Nikolaj V.: „Die Tätigkeit der Allrussischen Gesellschaft zum Gedenken an die Soldaten der russischen Armee in den Jahren des Großen Krieges: Eine Untersuchung auf der Grundlage russischer Archivalien“. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 63 (2015), 626-643.
  • Rodin, Nikolaj V.: „Repatriating the Remains of Russian Combatants during the Great War“. In: Fathi, Raomain / Robertson, Emily (Hg.): Proximity and Distance. Space, Time and World War I. Victoria 2020: Melbourne University Press, 180-199.
  • Rodin, Nikolaj V.: „Velikaja vojna 1914–1918 gg. i nacional’naja pamjat’ Rossii: proekty i realii“. In: Sergeev, Evgenij (Hg.): Velikaja vojna 1914–1918: Al’manach Rossijksoj associacii istorikov Pervoj mirovoj vojny: Rossija v Pervoj mirovoj vojne. Band 3. Moskau 2013: Kvadriga, 109-118.
  • Roth, P.: „Totenkult in Russland. Politik und Religion“. In: Glaube in der 2. Welt. Bd. 27, N 2. Zürich 1999, 25-29.
  • Rudkowski, Tadeusz Maria: Cmentarz Powązkowski w Warszawie. Panteon polski. Wrocław, Warszawa, Kraków 2006: Zaklad Narodowy im. Ossolinskich wydawnictwo.
  • Szenic, Stanisław: Cmentarz Powązkowski. 3 Bände. Warszawa 1979–1983: Państwowy Instytut Wydawniczy.
  • Troebst, Stefan: „Postkommunistische Erinnerungskulturen im östlichen Europa. Bestandsaufnahme, Kategorisierung, Periodisierung“. In: Gießmann, Hans-Joachim (Hg.): Europa, Polen und Deutschland: Willy-Brandt-Vorlesungen 2003–2005. Baden-Baden 2005: Nomos, 153-191.
  • Poršneva, O. S., Baranova, N. N. / Zemcova, V. N. (Hg.): Vojna, politika, pamjat’: Napoleonovskie vojny i Pervaja mirovaja vojna v prostranstve jubileev. Moskau 2020: Političeskaja enciklopedija.
  • Winter, Jay: Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History. Cambridge 1995: Cambridge University Press.
  • Zbarskij, B. I.: Mavzolej Lenina. Leningrad 1945: Gospolitizdat.
  • Zbarskij, I. B.: Ob“jekt No 1. Moskau 2000: Vagrius.

7. Abbildungsnachweise

Zitierweise

Reinhard Nachtigal: Nationalfriedhof. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher, Anna Schreurs-Morét und Ralf von den Hoff, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 01.06.2022. DOI: 10.6094/heroicum/nfd1.0.20220601