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- publiziert am 1. Juli 2019
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Inhalt
- 1. Gegenstand
- 2. Typologie
- 2.1. Heldenkollektive
- 2.1.1. ex-ante-Fall der Heroisierung
- 2.1.2. ex-post-Fall der Heroisierung
- 2.2. Heroische Kollektive
- 2.3. Kollektives Heldentum
- 2.3.1. Heroisierung der geschlossenen Masse
- 2.3.2. Heroisierung in der offenen Masse
- 3. Kollektive des Heroischen in der Moderne
- 4. Einzelnachweise
- 5. Ausgewählte Literatur
- 6. Abbildungsnachweise
- Zitierweise
1. Gegenstand
Unter ⟶Helden werden Einzelpersonen verstanden, in denen sich Diskurse zu Exzeptionalität, Exemplarität, Agonalität und ⟶Transgressivität verdichten und über gesellschaftliche ⟶Konstitutionsprozesse in Vorstellungen und Repräsentationen von einer Person zusammengeführt werden. Die heroische Figur verweist somit auf Phänomene des Singulären. Heroische Figuren fordern „dazu auf, sie als Einzelne zu betrachten. Als heroisch gilt eine Tat nur dann, wenn sie einzigartig ist und somit den Helden aus der Menge heraushebt.“1Schlechtriemen, Tobias: „Der ‚Held‘ als Effekt. Boundary work in Heroisierungsprozessen“. In: Berliner Debatte Initial 29.1 (2018), 106. Dieser Aspekt mag dazu verführen, Helden und Kollektive lediglich in komplementären Begrifflichkeiten zueinander zu denken und so die Rede vom ‚heroischen Kollektiv‘ als ein Paradoxon abzutun, das es der Natur der Sache nach gar nicht geben kann. Zugleich aber zeigt sich, dass Kollektive in verschiedenen Formen mit Semantiken des Heroischen in Verbindung gebracht werden und dass es sich hierbei nicht um exotische Einzelfälle handelt. Es soll daher im Folgenden eine Systematisierung vorgenommen werden, die sich der Frage stellt, auf welchen Ebenen sich über die Phänomene der Interaktionen einer heroischen Figur mit dem Kollektiv der Gewöhnlichen hinaus das Beziehungsgeflecht von Singularität und Pluralität – in ihren Extremfällen also Held und Masse – denken lässt. Dies erfolgt über eine Typologie, die sich in Heldenkollektiv, heroisches Kollektiv und kollektives Heldentum unterteilt. Die Reihenfolge der Begriffe richtet sich dabei danach aus, wie sehr in der Logik des jeweiligen Phänomens die Identität des Einzelnen hinter das Kollektiv zurücktritt.2Die hier vorgestellte Typisierung basiert auf den umfassenderen Überlegungen zur Rhetorik des Helden und den aus dieser erwachsenen Paradoxien und dialektischen Besonderheiten im Verhältnis von Helden und Vielen, die ich im von Vera Marstaller, Kelly Minelli, Stefan Schubert und Leo Vössing herausgegebenen Artikel „Helden und Viele – Typologische Überlegungen zum kollektiven Sog des Heroischen. Implikationen aus der Analyse des revolutionären Iran“ angestellt habe. Die Typisierung ist dort theoretisch begründet und wird vor dem Hintergrund des Beispiels der iranischen Gesellschaft diskutiert. Vgl. Gölz, Olmo: „Helden und Viele – Typologische Überlegungen zum kollektiven Sog des Heroischen. Implikationen aus der Analyse des revolutionären Iran“. In: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 7 (erscheint 2019).
2. Typologie
Es scheint sinnvoll, eine grundlegende Differenzierung der Phänomene des Zusammendenkens von Helden und Vielen vorzunehmen, um die Spielarten des Heroischen im Zusammenhang mit Kollektiven begrifflich fassbar zu machen. Zur Systematisierung des sehr weiten Themenfeldes wird hier also vorgeschlagen, die drei Typen Heldenkollektiv, heroisches Kollektiv und kollektives Heldentum zu unterscheiden. Die Anordnung der drei Typen soll dabei nicht auf eine historische Abfolge der Phänomene hindeuten.3Siehe hierzu eingehen den Abschnitt „Übertragungen“ in Gölz: „Helden und Viele“, 2019. Die Reihenfolge der Begriffe folgt hingegen allein der Feststellung, dass sie sich letztlich analog der Gegenüberstellung von dem Einen und den Vielen von dem bestimmbaren Helden auf die unbestimmbare Masse gleichsam qualitativ (keinesfalls jedoch quantitativ) hinbewegen.
2.1. Heldenkollektive
Unter Heldenkollektiven ist der Zusammenschluss mehrerer heroischer Figuren in einem Kollektiv zu verstehen.
2.1.1. ex-ante-Fall der Heroisierung
Typischerweise folgt dies einer ex ante-Logik in Bezug auf die ⟶Heroisierung: Es handelt sich also um das gemeinsame Handeln von in der Erzählstruktur bereits im Vorfeld als Helden vorgestellten Figuren. Der Status der im Heldenkollektiv eingegliederten Einzelfigur als Held liegt dabei vor dem Aufbau der Gruppenidentität, sodass diese Identität der Gruppe jener ihrer Mitglieder folgt und maßgeblich durch die Gesamtheit ihrer Individuen konstituiert wird. In diesem Fall werden die Logiken des Heroischen nicht durch die Zusammenführung im Kollektiv herausgefordert, sondern lediglich gebündelt. Die Helden treten weiter als Subjekte auf. Das Heldenkollektiv wird somit theoretisch nicht zwingend als Kollektivsubjekt adressiert (auch wenn es einen Namen erhalten sollte), sondern stellt nur den zeitlichen Rahmen für das gemeinsame Handeln der Helden.
Mit dem Phänomen des Heldenkollektivs ist insbesondere auf der Ebene des Fiktionalen zu rechnen – zu denken ist etwa an die in diesem Sinne paradigmatischen Zusammenschlüsse moderner ⟶Comic-Superhelden in zahlreichen Kollektiven wie den X-Men, Avengers oder der Justice League. Seine besondere Wirkmacht und soziale Relevanz entfaltet das Heldenkollektiv jedoch, wenn es als Präfigurat vorgestellt wird und in mythologische Großerzählungen eingegliedert ist. So kann es die entsprechenden Diskurse zu Wert- und Normvorstellungen spezifischer Gemeinschaften entscheidend prägen oder sogar definieren. In der Argonautensage fordert Iason die berühmtesten Helden Griechenlands zur Teilnahme an der Jagd nach dem goldenen Vlies auf, sodass die Argonauten sicher als Paradigma des präfigurativen Heldenkollektivs zu verstehen sind; ebenso wie dies für die Griechen vor Troja in der Ilias der Fall ist (vgl. ⟶Homerische Helden). Bedeutsam sind diese Erzählungen, da sie der an sie erinnernden Gemeinschaft einen Normenkatalog des Heroischen offerieren können, der seine Wirkmacht insbesondere daraus bezieht, dass die in den Einzelfiguren verhandelten Diskurse sich gegenseitig legitimieren. Die Rede vom Heldenkollektiv kann so als Auffangtatbestand für die Irritationen des Transgressiven dienen, für welche jede Gesellschaft einerseits Erklärungsbedarf hat und die andererseits eben nicht durchgehend mit dem strahlenden Vorbild des besonderen Einen, des charismatischen und triumphierenden Helden vereinbar sind oder durch ihn repräsentiert werden können.
Nach Luhmann ist moralische Bewertung nur über die Abweichung möglich und dies betrifft nicht nur das moralisch Gute, sondern auch das Böse, das als schlecht und verwerflich qualifizierte.4Luhmann, Niklas: „Die Autopoiesis des Bewußtseins“. In: Luhmann, Niklas (Hg.): Soziologische Aufklärung. Opladen 1995: Westdeutsche, 91. Die Taten der ‚Bösen‘ definieren also den Wertekatalog von Gesellschaften ebenso wie jene der ‚Guten‘. Da aber diese Bösen nicht zur Bezugnahme bei der Konstruktion der eigenen Identität einladen, sondern eben ‚die Anderen‘ repräsentieren sollen, muss sich zwangsläufig eine Ambiguitätsintoleranz in Bezug auf das eigene Selbst einstellen: Verfehlungen in den eigenen Reihen sind kaum ertragbar und nicht entschuldbar, wenn sie nicht auch als eigenes und bekanntes Problem kommuniziert werden.
Die Konstruktion von Heldenkollektiven bringt die Taten einer Vielzahl von Repräsentanten des moralisch regulierten Abweichens in Relationen zueinander. Sie werden verwoben, stehen in gegenseitigen Abhängigkeiten und legitimieren sich wechselseitig. So wird etwa Achilles’ Furor und die Schändung der Leiche des edlen Hektors erzählbar, weil er als Mitglied des Heldenkollektivs der Griechen vor Troja kämpfte. In Falle Achills werden so die jeder Gesellschaft bekannten Eskalationen und Überschreitungen des eigentlich Legitimen in Bezug auf die Kriegsgewalt gerechtfertigt und in Relation zur eigenen Identität gesetzt (vgl. ⟶Gewalt und Heldentum). Ähnliches gilt beispielsweise auch für die Figur des Wolverine im Heldenkollektiv der X-Men und für vergleichbare ambige Gestalten in Kollektiven. Die Konstruktion von Heldenkollektiven definiert so einerseits die moralische Ordnung, andererseits integriert sie Erzählungen von ‚schwarzen Schafen‘ in das eigene System, die das Transgredieren ihrer Grenzen zumindest zu entschuldigen vermögen.
In dem doppelten Vorgang, in dem erstens die durch die Transgressivität ausgelösten Irritationen auf eine Einzelfigur ausgelagert und zweitens deren Stärken in die idealisierten Eigenschaften des Kollektivs eingebunden werden, scheint das zentrale Angebot in der Konstruktion des Heldenkollektivs zu liegen. Dieser Prozess verleiht letztlich dem Heldenkollektiv seine kulturwissenschaftliche Relevanz. Wenn nämlich davon ausgegangen wird, dass ein präfiguratives Heldenkollektiv einen Katalog von Werten und Normen zur Verfügung stellt, dann kann als zentrale Frage formuliert werden: Ist es möglich, über die Analyse der Aufwertungs- oder Verdrängungsprozesse in Bezug auf einzelne Protagonisten innerhalb eines Heldenkollektivs Aussagen über die an sie erinnernde Gemeinschaft zu treffen?
2.1.2. ex-post-Fall der Heroisierung
Ein weiterer Typus des Heldenkollektivs ist in Bezug auf den ex post-Fall der Heroisierung denkbar. In diesem Fall wird eine Gruppe aus Einzelpersonen aufgrund der kollektiven Handlungen seiner Mitglieder mit Semantiken des Heroischen erfasst, wobei das Zusammenwirken der Individuen bei deren gleichzeitiger Identifizierbarkeit hervorgehoben wird. Hier ist etwa an Sportkollektive zu denken, paradigmatisch vielleicht die deutsche Fußballnationalmannschaft, deren Sieg 1954 gegen die übermächtigen Ungarn als das ‚Wunder von Bern‘ gefeiert wird. Zu beachten ist hier, dass die Leistung des Kollektivs analog zu den Paradigmen bekannter Heuristiken des Heroischen sich auch an der Konstruktion des Agons ausrichtet. Auch ‚die Ungarn‘ werden als Kollektivsubjekt präsentiert, sodass der aus den Semantiken des Heroischen bekannte agonale Aspekt herausgehoben werden kann. Die Mannschaft siegt gegen die Ungarn. Gleichwohl sind jeweils aber auch noch die Einzelspieler bekannt (es war „dem Fritz sein Wetter“, „Turek, du bist ein Teufelskerl! Turek du bist ein Fußballgott!“ meinte Reporter Zimmermann, und „aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen“, was er dann auch tat), sodass die Sportkollektive und die in ihnen erfassten Individuen nicht losgelöst voneinander zu denken sind und sich daher von den zuvor dargestellten Heldenkollektiven unterscheiden, die einer ex ante-Logik der Heroisierung folgen. Diese Form des Heldenkollektivs verweist durch die Verschiebung der Identität der einzelnen heroischen Figuren hin zur Gruppenidentität als Phänomen jedoch bereits auf die notwendig zu treffende Abgrenzung von Heldenkollektiven zu heroischen Kollektiven.
2.2. Heroische Kollektive
Heroische Kollektive sind als Konfigurationen zu begreifen, deren Auftritt von der heroischen Gruppenidentität dominiert wird, hinter der die Identität ihrer Mitglieder zurücktritt. Wird also das Heldenkollektiv maßgeblich über die Mitgliedschaft seiner spezifischen Individuen in ihm konstituiert, gilt für heroische Kollektive umgekehrt, dass die Individuen über ihre Mitgliedschaft in der Gruppe definiert werden. Es wird dabei die Gesamtheit der Mitglieder selbst heroisiert. Diese Kollektive sind durch die Möglichkeit der ständigen Rekombination gekennzeichnet und „zeichnen sich also dadurch aus, dass ihre Zusammensetzung kontingent und heterogen [ist] und deren Elemente doch irgendwie miteinander verbunden sind.“5Stäheli, Urs: „Infrastrukturen des Kollektiven: alte Medien – neue Kollektive?“ In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2 (2012), 113. Das Phänomen des auf diese Weise verstandenen Kollektivs lässt dabei interne Ungleichheiten und Hierarchien zu. In einer Übertragung von Elias Canettis Überlegungen zu ‚Massenkristallen‘, jenen festen Gruppierungen, denen eine große Beständigkeit und Einheit zu eigen ist, lässt sich sagen: „Eine Uniform oder ein bestimmtes Verrichtungslokal kommt ihnen sehr zustatten.“6Canetti, Elias: Masse und Macht. 33. Auflage. Frankfurt a. M. 2014: Fischer, 79. Canetti konstatiert in Bezug auf die von ihm besprochenen Kollektive, dass sie beständig sind, und ihre „Angehörigen sind auf ihre Verrichtung oder Gesinnung eingeübt. Sie können verteilte Funktionen haben wie in einem Orchester, aber es ist wichtig, dass sie als Ganzes in Erscheinung treten. Wer sie sieht oder erlebt, muss zu allererst spüren, dass sie nie auseinanderfallen werden. Ihr Leben außerhalb […] zählt nicht.“7Canetti: Masse und Macht, 2014, 79-80.
Dieser Punkt verweist auf den zentralen Unterschied des heroischen Kollektivs zum Heldenkollektiv: Man wird nicht an die private Existenz seiner Mitglieder denken, sondern bestenfalls an die Rolle des Einzelnen innerhalb des Kollektivs. Für das auf diese Weise gedachte Kollektiv – als Entität also, das einerseits in der Zeit bestehen will und eine feste Verrichtung kennt, andererseits aber sich über ständige Rekombinationen neu konfiguriert und drittens möglicherweise auch seine eigenen Mitglieder auf ihre Plätze innerhalb seiner Selbst verweisen muss – bietet der Rückgriff auf Diskurse zum Heroischen sowohl auf der gemeinschaftlichen Ebene Antworten auf die Herausforderungen, die aufgrund seiner Beschaffenheit an es gestellt werden, als auch auf der Ebene der Individuen, die in ihm zusammengefasst werden.
Die erste Ebene ist von dem Bedürfnis des entsprechenden Kollektivs auf seine Wahrnehmung als Einheit dominiert. Die Subjektivierung von Individuen ist auf eine Einheitsfiktion angewiesen, die zwar immer wieder bestätigt werden muss, die allerdings „bereits durch die sichtbare Grenzkontur seines Körpers eine gewisse Evidenz“ erhält.8Alkemeyer, Thomas / Bröckling, Ulrich: „Zur Subjektivierung kollektiver Subjekte. Ein Forschungsprogramm“. In: Alkemeyer, Thomas / Bröckling, Ulrich / Peter, Tobias (Hg.): Jenseits der Person. Zur Subjektivierung von Kollektiven. Bielefeld 2018: Transcipt, 25. Diese Einheitsfiktion muss von Kollektivsubjekten hingegen erst mühsam errungen werden.9Vgl. Alkemeyer / Bröckling: „Zur Subjektivierung kollektiver Subjekte”, 2018, 25. In heroischen Kollektiven ist es die Rhetorik des Helden und die mit ihr verbundene Anrufung des Singulären, die als Surrogat für den Körper dient, da in den entsprechenden Diskursen zum Heroischen immer die Fiktion des Einzelnen enthalten ist.
Wenn aber das Kollektiv nicht in den Konturen eines Menschen erscheinen kann, dann muss seine Verrichtung doch zumindest auf das Mehr-als-Erwartbar verweisen, auf das sich die Rhetorik des Helden beruft.10Siehe zu diesem Aspekt eingehend meine Ausführungen in Gölz 2019 in der Rubrik „Die Rhetorik des Helden“. Zugleich ist das konstituierende Moment „für Kollektive noch wichtiger als für Personen, deren Körperlichkeit, Sprechen und Handeln ja die Suggestion einer Einheit nahelegt, an welche die Subjektivierungspraktiken anschließen können.“11Alkemeyer / Bröckling: „Zur Subjektivierung kollektiver Subjekte”, 2018, 20. Noch mehr als der Held ist das heroische Kollektiv also von der Assoziierung mit einer bestimmten Tat – der ⟶Heldentat – abhängig. Diese typische Tätigkeit muss klar bestimmt sein, da die Heroisierung voraussetzt, dass das entsprechende Kollektiv in Zusammenhang mit dieser spezifischen Tat zu denken ist. Es kann auch die Taten nicht fingieren oder es bei ihrem einmaligen Tun bewenden lassen, sondern muss seinen Status über ihre wiederholte Verrichtung stetig erneut zertifizieren. Zudem ergibt sich daraus, dass das heroische Kollektiv nicht der Teilhabe des Individuums bedarf, sondern eines Typ Mensch. Ein Feuerwehmann der FDNY (Fire Department City of New York) bekämpft das Feuer und riskiert sein Leben; der Bundespolizist der GSG 9 (Grenzschutzgruppe 9) führt Spezialaufträge zur Terrorismusbekämpfung aus. Es ist nicht umgekehrt.
Das heroische Kollektiv existiert somit vor der Tat, durch die Tat und wegen der Tat, mit der es assoziiert wird. Vor diesem Hintergrund erfolgt über die Heroisierung ein doppelter Aufruf: An das heroische Kollektiv wird der Anspruch formuliert, als Ganzheit seinen Status zu erhalten, indem es seiner Profession gerecht wird. Über das Aufrufen des Heroischen in Kollektiven wird die Heldentat somit diskursiv professionalisiert. Es ergibt sich eine Aufforderung zur Tat, die an das Individuum als Mitglied dieser Gemeinschaft ergeht. Dies deutet nun auf die zweite Ebene hin: Dem Einzelnen wird nicht nur die Pflicht auferlegt, durch sein Tun seinen Beitrag im Kollektiv zu leisten und so dessen Status zu sichern, sondern es erfolgt auch ein Angebot an das Individuum: Seine Tat mag nicht identifizierbar oder sogar unbedeutend sein, als Mitglied des heroischen Kollektives partizipiert es jedoch am Heroischen und hat so Teil an der Attraktivität, die über die Semantiken des Singulären und Außerordentlichen transportiert werden. Es kann sich so mit Heldentum schmücken und auf jenes semantischen Feld zugreifen, das auf die moralisch legitimierte Abweichung verweist und so „stärker individualisiert als die Konformität.“12Luhmann: „Die Autopoiesis des Bewußtseins“, 1995, 90.
2.3. Kollektives Heldentum
In der eigentlich paradoxen Einforderung heroischen Handelns äußert sich die dialektische Wirkung der sozialisatorisch-erzieherischen Funktion des Helden, der sich durch sein Beispiel gleichsam selbst abschafft. Nicht nur, weil er im hegelschen Sinn eine Ordnung konstituiert, in der er keinen Platz mehr finden kann13Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen. 15. Auflage. Frankfurt am Main 2017: Suhrkamp, 180: „Im Staat kann es keine Heroen mehr geben: diese kommen nur im ungebildeten Zustande vor. Der Zweck derselben ist ein rechtlicher, notwendiger und staatlicher, und diesen führen sie als ihre Sache aus. Die Heroen, die Staaten stifteten, Ehe und Ackerbau einführten, haben dieses freilich nicht als anerkanntes Recht getan, und diese Handlungen erscheinen noch als ihr besonderer Wille; aber als das höhere Recht der Idee gegen die Natürlichkeit ist dieser Zwang der Heroen ein rechtlicher, denn in Güte läßt sich gegen die Gewalt der Natur wenig ausrichten.“, sondern auch, weil das Übertreffen der erwartbaren Leistung durch sein Beispiel eben sehr erwartbar wird. Die Paradoxie wird dann sichtbar, wenn die im Helden zugespitzte Rhetorik der Abweichung auf die Idealvorstellung der Konformität schlechthin übertragen wird, nämlich, dass alle gleich sein sollen und darin ihre Einzigartigkeit nicht nur finden, sondern diese auch überhaupt erst moralisch einordnen können. Wenn Moral eine Ordnung des Besonderen ist, dann gilt dies eben auch für Kollektive. Die Phänomene des kollektiven Heldentums machen sich einerseits diese Logik zunutze und veranschaulichen andererseits die Aufhebung des Besonderem im Allgemeinen. Unter kollektivem Heldentum sind somit jene Versuche zu verstehen, welche die Diskurse zum Heroischen auf die Gesamtheit der Mitglieder einer Gemeinschaft übertragen.
Die ⟶Attraktionskraft heroischer Semantiken wird dort am deutlichsten, wo entweder diskursiv oder gar systematisch der Status des Helden verliehen wird. Hierzu zählen sicher Bezeichnungen wie „Helden der Arbeit“ oder ⟶„Helden des Alltags“ und dergleichen, die sich der Semantiken des Außeralltäglichen bemächtigen, um ideales Verhalten im Sinne der Gemeinschaft von ihren Mitgliedern einzufordern und gleichermaßen zu veralltäglichen. Die zentrale Frage an diese Formen des kollektiven Heldentums wäre, inwiefern hier noch jene Phänomene des Heroischen zu identifizieren sind, die auf die Rhetorik des Helden mit seinen supererogatorischen Implikationen verweisen. Diese Phänomene können aber zumindest dazu geeignet sein, den Sog heroischer Semantiken abzubilden, wo doch eine Serialität des Helden eigentlich nicht denkbar scheint, gleichwohl aber genau diese Idee genügend Potentiale birgt, die Menge der eigentlich Alltäglichen zu mobilisieren.
2.3.1. Heroisierung der geschlossenen Masse
Dies führt nun zu einem Zusammendenken der Phänomene Held und Masse. Die massenpsychologischen Abhandlungen, die sich dem Verhältnis von Held und Masse widmen, gehen meist davon aus, dass die Masse jener Haufen ist, der beherrscht werden will, der aufgewiegelt werden muss und so ihren Helden braucht.14Vgl. Buford, Bill: Geil auf Gewalt. Unter Hooligans. 9. Auflage. München 2004: Hanser, 208: „Und wen finden wir in der Masse? Unruhestifter, Gesindel, Landstreicher und Kriminelle (Taine). Krankhaft Nervöse, Übererregbare und Halbirre (Le Bon). Den Abschaum, der aus dem Siedekessel einer Stadt an die Oberfläche steigt (Gibbon). Sowohl ehrenwerte Barbaren (Hitler) als auch die gemeine Arbeiterklasse, die nur nach Brot und Spielen verlangt (Hitler). Menschen, die ihre Antriebe aus dem Rückenmark statt aus dem Gehirn empfangen (Le Bon). Menschen ohne Verstand, Urteils- und Unterscheidungsvermögen, die, weil zu eigenem Denken nicht fähig, anfällig sind für Agitatoren, äußere Beeinflussung, Infiltration, für Kommunisten, Faschisten, Rassisten, Nationalisten, Phalangisten und Spione. Menschen, die es nach Gehorsam dürstet (Le Bon), mit Lust an der Unterwerfung (Freud). Die Masse will beherrscht werden. Sie braucht ihren Patriarchen – den despotischen Vater, Häuptling, Tyrannen, Kaiser oder Kommandanten. Sie braucht ihren Hitler, ihren Mussolini. Die Masse ist wie der Patient für den Arzt, der Hypnotisierte für den Hypnotiseur. Die Masse ist der Mob – den man lenken, beherrschen, aufwiegeln muss. In diesen Überlegungen wird aber von einer Abrufbarkeit der Masse ausgegangen, die dem Massenphänomen selbst nicht gerecht wird, denn die Masse ist begrifflich zunächst nur in der Zeit zu denken, in der sie physisch existiert. Die Masse, die nicht mehr wächst und keine Richtung mehr kennt, fällt auseinander und löst sich auf. Das hat Folgen, wie Elias Canetti feststellt: „Die Menschen, die sich plötzlich gleich fühlen, sind nicht wirklich und für immer gleich geworden. Sie kehren in ihre separaten Häuser zurück, sie legen sich in ihre Betten schlafen. Sie behalten ihren Besitz, sie geben ihren Namen nicht auf. Sie verstoßen ihre Angehörigen nicht. Sie laufen ihrer Familie nicht davon.“15Canetti: Masse und Macht, 2014, 13. Die „stehende Masse“, analog zu einem „stehenden Heer“, gibt es nicht, gleichwohl aber wird sie von den Massenideologien imaginiert. Und es ist die geschlossene Masse, die von ihnen propagiert wird:
„Diese verzichtet auf Wachstum und legt ihr Hauptaugenmerk auf Bestand. Was an ihr auffällt, ist die Grenze. Die geschlossene Masse setzt sich fest, Sie schafft sich ihren Ort, indem sie sich begrenzt […]. Ganz besonders aber rechnet sie mit Wiederholung. Durch die Aussicht auf Wiederversammeln täuscht die Masse über ihre Auflösung jedes Mal hinweg. Das Gebäude wartet auf sie, um ihretwillen ist es da, und solange es da ist, werden sie sich auf dieselbe Weise zusammenfinden.“16Canetti: Masse und Macht, 2014, 11-12.
Das Reichsparteitagsgelände, das errichtet wird, um die Wiederholbarkeit und Wiederaufrufbarkeit der Masse zu demonstrieren, ist ein ebensolcher Versuch, über die Auflösung der Masse hinwegzutäuschen. Es bietet eine Infrastruktur des Kollektiven an, das „die Wieder-Versammlung und auch die Wiederholung der Bewegungsströme des Kollektiven“ ermöglichen soll und „die Erfahrung der kollektiven Bewegung reproduzierbar“ macht.17Stäheli: „Infrastrukturen des Kollektiven“, 2012, 115. Analog zu diesen manifesten Infrastrukturen bietet das Heroische eine diskursive Vorrichtung an, welche die Grenze zieht zwischen dem Wir, welches sich in der Zeit behaupten kann, und dem Anderen, das dies nicht kann.
In diesen Fällen soll das Massenerlebnis über die Implementierung von Diskursen der moralischen Berufung und Verpflichtung auf Dauer gestellt werden. Es ist die Rede vom kollektiven Heldentum, das in der Moderne seine Verbreitungen über die Massenmedien finden kann, welche die offene Masse zu einer geschlossenen erziehen soll. So wird über die Attribuierungen der zur Teilhabe Berechtigten eine geistige Grenze geschaffen, die nicht nur das Kollektiv von anderen abgrenzt, sondern zudem über die faktische Auflösung der Masse hinwegtäuscht. Rhetorisch lässt sich diese Übung exemplarisch bei Werner Sombart nachvollziehen. Sombart schreibt 1915 in Händler und Helden von einem ‚Volkskörper‘, der „ein starkes deutsches Volk“ repräsentieren solle und der also auch wachsen wolle „in den Grenzen des Organischen“.18Sombart, Werner: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München, Leipzig 1915: Duncker & Humblot, 144. Er führt über das so zu einem symbolischen (Helden-)Körper konstruierte Volk in Abgrenzung zu allen anderen Völkern und damit in Betonung seines exzeptionellen Charakters aus:
„Deutschland ist der letzte Damm gegen die Schlammflut des Kommerzialismus, der sich über alle anderen Völker entweder schon ergossen hat oder unaufhaltsam zu ergießen im Begriffe ist, weil keines von ihnen gegen die andringende Gefahr gepanzert ist durch die heldische Weltanschauung, die allein, wie wir gesehen haben, Rettung und Schutz verheißt. Möchten Euch, meine lieben, jungen Freunde, denen ich diese Blätter widme, meine Worte zu Herzen dringen und in Euch den Geist stärken, der uns zum Siege führen wird: den deutschen Heldengeist!“19Sombart: Händler und Helden, 1915, 145.
Adolf Hitler bemächtigte sich derselben Rhetorik zwanzig Jahre später anlässlich des Reichsparteitages der NSDAP in Nürnberg. In Leni Riefenstahls 1935 gedrehtem Parteitagsfilm Triumph und Willen wird die Rede Hitlers vor den einheitlichen Kolonnen der NSDAP präsentiert, in der er von „der Bewegung“ ausgeht, die „lebt. Und sie steht felsenfest begründet. Und solange auch nur einer von uns atmen kann, wird er dieser Bewegung seine Kräfte leihen.“ Diese lebende und atmende Bewegung wird, so Hitler, wachsen, und dem früher zerrissenen Volk wird die geeinte Nation nachfolgen. Er schließt mit den Worten: „So sei dann unser Gelöbnis an diesem Abend: In jeder Stunde, an jedem Tag, nur zu denken an Deutschland, an Volk und ans Reich, an unsere deutsche Nation und das deutsche Volk. Sieg Heil!“20Vgl. Adolf Hitler in Leni Riefenstahl: Triumph des Willens (1935), Min. 59:28-59:49. Die für diesen Artikel relevanten Textpassagen beginnen ab Minute 55:05 und lauten gemäß der Transkription des Verfassers: „Vor einem Jahr trafen wir uns zum ersten Mal auf diesem Felde. Der erste Generalapell der politischen Leiter der Nationalsozialistischen Partei. 200.000 Männer sind nun versammelt, die nichts hergerufen hat, als das Gebot ihres Herzens; nichts hergerufen hat, als das Gebot ihrer Treue. […] Nicht der Staat befiehlt uns, sondern wir befehlen dem Staate. Nicht der Staat hat uns geschaffen, sondern wir schaffen uns unseren Staat. Nein, die Bewegung, sie lebt. Und sie steht felsenfest begründet. Und solange auch nur einer von uns atmen kann, wird er dieser Bewegung seine Kräfte leihen und für sie eintreten, so wie in den Jahren die hinter uns liegen. Vor Trommel wird Trommel kommen, vor Fahne die Fahne; dann wird zur Gruppe die Gruppe stoßen, zum Gau das Gau; und dann wird endlich dieser gewaltigen Kolonne die geeinte Nation nachfolgen dem früher zerrissenen Volk. Es würde ein Frevel sein, wenn wir jemals sinken ließen, was mit so viel Arbeit, so viel Sorgen, so viel Opfern und so viel Not erkämpft und errungen werden musste. Man kann nicht dem untreu werden, was einem das ganze Leben Inhalt, Sinn und Zweck gegeben hat. Es wird nicht so etwas aus Nichts, wenn diesem Werden nicht ein großer Befehl zugrunde liegt. Und den Befehl gab uns kein irdischer Vorgesetzter, den gab uns der Gott, der unser Volk geschaffen hat. So sei dann unser Gelöbnis an diesem Abend: In jeder Stunde, an jedem Tag, nur zu denken an Deutschland, an Volk und ans Reich, an unsere deutsche Nation und das deutsch Volk. Sieg Heil!“ Deutlicher lässt sich der Versuch der Implementierung einer geschlossenen Masse kaum artikulieren. Parteitagsgelände, Massenerfahrung, Uniform, Suggestion einer lebenden Bewegung, Aufbau eines Kollektivsubjektes und die Anrufung des Heroischen bilden eine Gesamtschau, die über die Etablierung kollektiven Heldentums als eine von zahlreichen Strategien die Wiederholbarkeit der Masse behaupten soll.
2.3.2. Heroisierung in der offenen Masse
Nach dieser Betrachtung scheint für die Phänomene des kollektiven Heldentums nichts weiter zu gelten als die Aussage, dass sich der Rhetorik des Helden strategisch bedient wird. Es soll die Außergewöhnlichkeit und so die moralische Dimension des Kollektivs aufzeigen und seine Mitglieder durch deren gemeinsame Überhöhung auf Konformität verpflichten.
Diese Betrachtung trägt aber nicht dem anthropologischen Phänomen der Erfahrungen innerhalb der offenen Masse Rechnung, welche den Ausgangspunkt für Elias Canettis Essay Masse und Macht darstellten. Canetti geht es um die Erfahrungen des Individuums innerhalb der Masse und der mit ihr verbundenen Suche nach Gleichheit, denn „[e]in Kopf ist ein Kopf, ein Arm ist ein Arm, auf Unterschiede zwischen ihnen kommt es nicht an. Um dieser Gleichheit willen wird man zur Masse.“21Canetti: Masse und Macht, 2014, 26. Auf der Ebene der Erfahrungen – in Umkehrung der Frage nach der Subjektivierung von Kollektiven zur Frage nach der Subjektivierung in Kollektiven – findet das Heroische so auch seinen Platz in den offenen Massen, die nicht auf Dauer gestellt sind. Denn vor jeder Masse in der Zeit steht doch die erste und scheinbar ganz banale Frage all jener Individuen, welche die Masse konstituieren, im Raum: „Wollen wir, als Einzelne, uns entschließen, nicht mehr vereinzelt zu sein, sondern eine Masse zu werden?“22Buford: Geil auf Gewalt, 2004, 324. Dahinter steht die Feststellung, dass eine Masse nicht gegen ihren Willen gebildet werden kann, dass sie also nicht irgendwo steht und auf ihren Führer wartet, der ihr die Richtung gibt – auch wenn die entsprechenden Ideologien das über ihre Ansprachen an das Heroische simulieren mögen. Damit ist jeder Einzelne an ihrer Schöpfung beteiligt. Bill Buford hat für sein Buch Geil auf Gewalt die Seiten gewechselt und wollte als aktiver Beobachter Teil der Masse sein. Er schildert seine eigenen Erfahrungen in Bezug auf eine Situation unter Hooligans unmittelbar nach dem Prozess der Konstituierung einer Masse:
„Die nächste Phase war gekennzeichnet durch das überwältigende Gefühl, eine Leistung vollbracht zu haben. Eine Masse war geschaffen worden, von den Leuten, die auf die Straße getreten waren, und allen war bewusst, was sie getan hatten; es war ein Schöpfungsakt. Auch andere Metaphern wären möglich: Die Mitglieder der Masse waren die Masse und zugleich deren Schöpfer; sie waren der Ton und der Töpfer, der Stein und der Bildhauer, die Stimme und die Musik. Sie hatten aus sich selbst etwas gemacht. Auch dies – dieses Massenempfinden – stellte sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit ein, Sekunden nach dem Beginn des ‚Marsches‘.“23Buford: Geil auf Gewalt, 2004, 326.
Hier nun, in der Selbstwahrnehmung der Individuen der offenen Masse, findet die dialektische Auflösung des Heroischen seine Zuspitzung im kollektiven Heldentum. Mit allen gemeinsam wurde Einzigartiges geschaffen: durch mich und an mir, durch meinen Nachbarn und an ihm.
3. Kollektive des Heroischen in der Moderne
Aus den Überlegungen zu der hier vorgestellten Typologie ergibt sich eine epochenspezifische Frage: Kann die diskursive Professionalisierung von Heldentum als ein gemeinschaftlicher Versuch der Zähmung des Heroischen in der Moderne verstanden werden? Herfried Münkler spricht etwa explizit von heroischen Gemeinschaften in postheroischen Gesellschaften.24Vgl. Münkler, Herfried: „Heroische und postheroische Gesellschaften“. In: Merkur 61, 8/9 (2007), 746-750. Er meint damit zwar nicht die hier vorgestellten heroischen Kollektive im engeren Sinne, deutet aber einen Mechanismus der Transformation von der Rhetorik des Helden auf Phänomene der Moderne an. Auch Luhmann beschäftigt sich mit epochenspezifischen Phänomenen, wenn er in seinem Werk Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft über das Individuum im 18. Jahrhundert schreibt: „Eine der wichtigsten Fragen ist: ob und ab wann und mit welchen semantischen Hilfen es dem Individuum erlaubt wird, zu betonen, daß es anders ist als alle anderen.“25Luhmann, Niklas: „Individuum, Individualität, Individualismus“. In: Luhmann, Niklas (Hg.): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 2012: Suhrkamp, 182. Luhmann deutet in diesem Sinn auf eine zeitliche Dimension der Heldenrhetorik hin, die in bestimmten Epochen Glaubwürdigkeit verliert und möglicherweise sogar ihrer Übertragung auf Kollektive bedarf, um überhaupt zu überleben – wenn auch als „rhetorische Floskel“, wie in der Rede vom „Held der Arbeit“.26Luhmann: „Individuum, Individualität, Individualismus“, 2012, 95, FN 69. Die Phänomene der hier angebotenen Begriffe von heroischen Kollektiven und kollektivem Heldentum beziehen ihre Kraft also aus den Mechanismen dieser Floskel. Sie bieten dem Einzelnen genau das an, was dem Helden versagt wird: Das Individuum darf sich die Partizipation an Ruhm, Reputationsgewinn oder moralischer Achtung eingestehen und sie wird ihm sogar zugesichert – nur eben um den Preis, dass sein Name hinter jenen des Kollektivs zurücktritt, dem der Hauptteil der Ehre aufgrund der Austauschbarkeit des Einzelnen gebührt.
Dieser Beobachtung folgend könnte man versucht sein, die Typologie in der Reihenfolge von Held, Heldenkollektiv, heroischem Kollektiv und kollektivem Heldentum in der diachronen Logik eines Nacheinanders zu konstruieren und etwa behaupten, dass der Held seinen Platz in einem ‚Heroenzeitalter‘ im Sinne Hegels fände27Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Aesthetik I. Frankfurt a. M. 1989: Suhrkamp, 243-244: „Heroen […] sind Individuen, welche aus der Selbständigkeit ihres Charakters und ihrer Willkür heraus das Ganze einer Handlung auf sich nehmen und vollbringen und bei denen es daher als individuelle Gesinnung erscheint, wenn sie das ausführen, was das Rechte und Sittliche ist. Diese unmittelbare Einheit aber von Substantiellem und Individualität der Neigung, der Triebe, des Wollens liegt in der griechischen Tugend, so daß die Individualität sich selbst das Gesetz ist, ohne einem für sich bestehenden Gesetz, Urteil und Gericht unterworfen zu sein. So treten z. B. die griechischen Heroen in einem vorgesetzlichen Zeitalter auf oder werden selber Stifter von Staaten, so daß Recht und Ordnung, Gesetz und Sitte von ihnen ausgehen und sich als ihr individuelles Werk, das an sie geknüpft bleibt, verwirklichen.“, wo nun auch Heldenkollektive zu verorten wären, wohingegen wir es in der europäischen Moderne mit den anderen beiden Phänomenen zu tun hätten. Der Gedanke mag zumindest dahingehend diskutiert werden, dass sich epochenspezifische Gewichtungen der Begrifflichkeiten finden lassen; eine teleologische Perspektive, die vom Helden der Antike zum kollektiven Heldentum der Moderne ausgehen würde, ist jedoch ausdrücklich abzulehnen. Vielmehr ist die vorliegende Typologie als eine generalisierende Heuristik zur Verflechtung von Helden und Vielen zu denken, welche kontextgebundene Fragestellungen (wie eben jene nach der Epochenspezifik im jeweiligen kulturellen Setting) provoziert.
4. Einzelnachweise
- 1Schlechtriemen, Tobias: „Der ‚Held‘ als Effekt. Boundary work in Heroisierungsprozessen“. In: Berliner Debatte Initial 29.1 (2018), 106.
- 2Die hier vorgestellte Typisierung basiert auf den umfassenderen Überlegungen zur Rhetorik des Helden und den aus dieser erwachsenen Paradoxien und dialektischen Besonderheiten im Verhältnis von Helden und Vielen, die ich im von Vera Marstaller, Kelly Minelli, Stefan Schubert und Leo Vössing herausgegebenen Artikel „Helden und Viele – Typologische Überlegungen zum kollektiven Sog des Heroischen. Implikationen aus der Analyse des revolutionären Iran“ angestellt habe. Die Typisierung ist dort theoretisch begründet und wird vor dem Hintergrund des Beispiels der iranischen Gesellschaft diskutiert. Vgl. Gölz, Olmo: „Helden und Viele – Typologische Überlegungen zum kollektiven Sog des Heroischen. Implikationen aus der Analyse des revolutionären Iran“. In: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 7 (erscheint 2019).
- 3Siehe hierzu eingehen den Abschnitt „Übertragungen“ in Gölz: „Helden und Viele“, 2019.
- 4Luhmann, Niklas: „Die Autopoiesis des Bewußtseins“. In: Luhmann, Niklas (Hg.): Soziologische Aufklärung. Opladen 1995: Westdeutsche, 91.
- 5Stäheli, Urs: „Infrastrukturen des Kollektiven: alte Medien – neue Kollektive?“ In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2 (2012), 113.
- 6Canetti, Elias: Masse und Macht. 33. Auflage. Frankfurt a. M. 2014: Fischer, 79.
- 7Canetti: Masse und Macht, 2014, 79-80.
- 8Alkemeyer, Thomas / Bröckling, Ulrich: „Zur Subjektivierung kollektiver Subjekte. Ein Forschungsprogramm“. In: Alkemeyer, Thomas / Bröckling, Ulrich / Peter, Tobias (Hg.): Jenseits der Person. Zur Subjektivierung von Kollektiven. Bielefeld 2018: Transcipt, 25.
- 9Vgl. Alkemeyer / Bröckling: „Zur Subjektivierung kollektiver Subjekte”, 2018, 25.
- 10Siehe zu diesem Aspekt eingehend meine Ausführungen in Gölz 2019 in der Rubrik „Die Rhetorik des Helden“.
- 11Alkemeyer / Bröckling: „Zur Subjektivierung kollektiver Subjekte”, 2018, 20.
- 12Luhmann: „Die Autopoiesis des Bewußtseins“, 1995, 90.
- 13Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen. 15. Auflage. Frankfurt am Main 2017: Suhrkamp, 180: „Im Staat kann es keine Heroen mehr geben: diese kommen nur im ungebildeten Zustande vor. Der Zweck derselben ist ein rechtlicher, notwendiger und staatlicher, und diesen führen sie als ihre Sache aus. Die Heroen, die Staaten stifteten, Ehe und Ackerbau einführten, haben dieses freilich nicht als anerkanntes Recht getan, und diese Handlungen erscheinen noch als ihr besonderer Wille; aber als das höhere Recht der Idee gegen die Natürlichkeit ist dieser Zwang der Heroen ein rechtlicher, denn in Güte läßt sich gegen die Gewalt der Natur wenig ausrichten.“
- 14Vgl. Buford, Bill: Geil auf Gewalt. Unter Hooligans. 9. Auflage. München 2004: Hanser, 208: „Und wen finden wir in der Masse? Unruhestifter, Gesindel, Landstreicher und Kriminelle (Taine). Krankhaft Nervöse, Übererregbare und Halbirre (Le Bon). Den Abschaum, der aus dem Siedekessel einer Stadt an die Oberfläche steigt (Gibbon). Sowohl ehrenwerte Barbaren (Hitler) als auch die gemeine Arbeiterklasse, die nur nach Brot und Spielen verlangt (Hitler). Menschen, die ihre Antriebe aus dem Rückenmark statt aus dem Gehirn empfangen (Le Bon). Menschen ohne Verstand, Urteils- und Unterscheidungsvermögen, die, weil zu eigenem Denken nicht fähig, anfällig sind für Agitatoren, äußere Beeinflussung, Infiltration, für Kommunisten, Faschisten, Rassisten, Nationalisten, Phalangisten und Spione. Menschen, die es nach Gehorsam dürstet (Le Bon), mit Lust an der Unterwerfung (Freud). Die Masse will beherrscht werden. Sie braucht ihren Patriarchen – den despotischen Vater, Häuptling, Tyrannen, Kaiser oder Kommandanten. Sie braucht ihren Hitler, ihren Mussolini. Die Masse ist wie der Patient für den Arzt, der Hypnotisierte für den Hypnotiseur. Die Masse ist der Mob – den man lenken, beherrschen, aufwiegeln muss.
- 15Canetti: Masse und Macht, 2014, 13.
- 16Canetti: Masse und Macht, 2014, 11-12.
- 17Stäheli: „Infrastrukturen des Kollektiven“, 2012, 115.
- 18Sombart, Werner: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München, Leipzig 1915: Duncker & Humblot, 144.
- 19Sombart: Händler und Helden, 1915, 145.
- 20Vgl. Adolf Hitler in Leni Riefenstahl: Triumph des Willens (1935), Min. 59:28-59:49. Die für diesen Artikel relevanten Textpassagen beginnen ab Minute 55:05 und lauten gemäß der Transkription des Verfassers: „Vor einem Jahr trafen wir uns zum ersten Mal auf diesem Felde. Der erste Generalapell der politischen Leiter der Nationalsozialistischen Partei. 200.000 Männer sind nun versammelt, die nichts hergerufen hat, als das Gebot ihres Herzens; nichts hergerufen hat, als das Gebot ihrer Treue. […] Nicht der Staat befiehlt uns, sondern wir befehlen dem Staate. Nicht der Staat hat uns geschaffen, sondern wir schaffen uns unseren Staat. Nein, die Bewegung, sie lebt. Und sie steht felsenfest begründet. Und solange auch nur einer von uns atmen kann, wird er dieser Bewegung seine Kräfte leihen und für sie eintreten, so wie in den Jahren die hinter uns liegen. Vor Trommel wird Trommel kommen, vor Fahne die Fahne; dann wird zur Gruppe die Gruppe stoßen, zum Gau das Gau; und dann wird endlich dieser gewaltigen Kolonne die geeinte Nation nachfolgen dem früher zerrissenen Volk. Es würde ein Frevel sein, wenn wir jemals sinken ließen, was mit so viel Arbeit, so viel Sorgen, so viel Opfern und so viel Not erkämpft und errungen werden musste. Man kann nicht dem untreu werden, was einem das ganze Leben Inhalt, Sinn und Zweck gegeben hat. Es wird nicht so etwas aus Nichts, wenn diesem Werden nicht ein großer Befehl zugrunde liegt. Und den Befehl gab uns kein irdischer Vorgesetzter, den gab uns der Gott, der unser Volk geschaffen hat. So sei dann unser Gelöbnis an diesem Abend: In jeder Stunde, an jedem Tag, nur zu denken an Deutschland, an Volk und ans Reich, an unsere deutsche Nation und das deutsch Volk. Sieg Heil!“
- 21Canetti: Masse und Macht, 2014, 26.
- 22Buford: Geil auf Gewalt, 2004, 324.
- 23Buford: Geil auf Gewalt, 2004, 326.
- 24Vgl. Münkler, Herfried: „Heroische und postheroische Gesellschaften“. In: Merkur 61, 8/9 (2007), 746-750.
- 25Luhmann, Niklas: „Individuum, Individualität, Individualismus“. In: Luhmann, Niklas (Hg.): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 2012: Suhrkamp, 182.
- 26Luhmann: „Individuum, Individualität, Individualismus“, 2012, 95, FN 69.
- 27Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Aesthetik I. Frankfurt a. M. 1989: Suhrkamp, 243-244: „Heroen […] sind Individuen, welche aus der Selbständigkeit ihres Charakters und ihrer Willkür heraus das Ganze einer Handlung auf sich nehmen und vollbringen und bei denen es daher als individuelle Gesinnung erscheint, wenn sie das ausführen, was das Rechte und Sittliche ist. Diese unmittelbare Einheit aber von Substantiellem und Individualität der Neigung, der Triebe, des Wollens liegt in der griechischen Tugend, so daß die Individualität sich selbst das Gesetz ist, ohne einem für sich bestehenden Gesetz, Urteil und Gericht unterworfen zu sein. So treten z. B. die griechischen Heroen in einem vorgesetzlichen Zeitalter auf oder werden selber Stifter von Staaten, so daß Recht und Ordnung, Gesetz und Sitte von ihnen ausgehen und sich als ihr individuelles Werk, das an sie geknüpft bleibt, verwirklichen.“
5. Ausgewählte Literatur
- Alkemeyer, Thomas / Bröckling, Ulrich: „Zur Subjektivierung kollektiver Subjekte. Ein Forschungsprogramm“. In: Alkemeyer, Thomas / Bröckling, Ulrich / Peter, Tobias (Hg.): Jenseits der Person. Zur Subjektivierung von Kollektiven. Bielefeld 2018: Transcipt,17-32.
- Buford, Bill: Geil auf Gewalt. Unter Hooligans. 9. Auflage. München 2004: Hanser.
- Canetti, Elias: Masse und Macht. 33. Auflage. Frankfurt a. M. 2014: Fischer.
- Gölz, Olmo (2019): „Helden und Viele – Typologische Überlegungen zum kollektiven Sog des Heroischen. Implikationen aus der Analyse des revolutionären Iran“. In: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 7 (erscheint 2019).
- Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Aesthetik I. Frankfurt a. M. 1989: Suhrkamp.
- Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen. 15. Auflage. Frankfurt a. M. 2017: Suhrkamp.
- Luhmann, Niklas: „Die Autopoiesis des Bewußtseins“. In: Luhmann, Niklas (Hg.): Soziologische Aufklärung. Opladen 1995: Westdeutscher Verlag, 55-112.
- Luhmann, Niklas: „Individuum, Individualität, Individualismus“. In: Luhmann, Niklas (Hg.): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 2012: Suhrkamp, 159-258.
- Münkler, Herfried: „Heroische und postheroische Gesellschaften“. In: Merkur 61.8/9 (2007), 742-752.
- Schlechtriemen, Tobias: „Der ‚Held‘ als Effekt. Boundary work in Heroisierungsprozessen“. In: Berliner Debatte Initial 29.1 (2018), 106-119.
- Sombart, Werner: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München, Leipzig 1915: Duncker & Humblot.
- Stäheli, Urs: „Infrastrukturen des Kollektiven: alte Medien – neue Kollektive?“ In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2 (2012), 99-116.