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- published 28 June 2024
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1. Einleitung
In einer von der Kritik wenig beachteten Szene in Steven Spielbergs Kriegsepos Saving Private Ryan (1998) gibt John Miller (Tom Hanks), der Captain der Ranger-Einheit, die auf der Suche nach der Titelfigur ist, seinen Beruf preis, der seinen Leuten bis dahin ein Rätsel war: Er war vor dem Krieg Englischlehrer gewesen.1Saving Private Ryan. Dir Steven Spielberg. Paramount, 1998. Es beunruhigt ihn, dass er nicht mehr als Lehrer erkennbar zu sein scheint; er fragt sich, wie sehr ihn der Krieg verändert haben mag. Heroisches ⟶Soldatentum scheint mit dem Lehrerdasein nicht vereinbar – in dieser Hinsicht war das Skript von Saving Private Ryan keinen Schritt weiter als Regisseur John Ford 1959: In Fords Film The Horse Soldiers, der ebenfalls an eine tatsächliche Begebenheit angelehnt ist, wird der historische Kavallerieoberst Benjamin Grierson, im Zivilberuf Musiklehrer, durch eine von John Wayne gespielte Figur ersetzt, deren Beruf Eisenbahningenieur ist.2The Horse Soldiers. Dir. John Ford. United Artists, 1959. Ein im Wortsinne zupackender und dafür heroisierbarer Lehrer, der eine Kollegin vor einem sexuellen Übergriff bewahrt und letztlich in der physischen Auseinandersetzung mit dem Rädelsführer seiner schwierigen Berufsschulklasse die Oberhand behält, musste in Hollywood zumindest Kriegsveteran sein: Glenn Ford in seiner Rolle als Richard Dadier in Blackboard Jungle (1955), basierend auf dem Roman von Evan Hunter.3Blackboard Jungle. Dir Richard Brooks, MGM, 1955.
Lehrer und Heldentum scheinen in diesen Filmbeispielen nur durch eine Einbettung in einen militärischen Kontext miteinander vereinbar. Das Soldatische verleiht der amerikanischen Lehrerfigur u. a. ⟶heroische Eigenschaften, die Lehrenden als vermeintlich handlungsschwachen Intellektuellen ansonsten oft abgesprochen werden. Im deutschsprachigen Kulturraum ist das ambivalenter organisiert. In der Figur des Zeki Müller (Elyas M’Barek) im deutschen Lehrer-Film Fack ju Göthe (2013) ist es nicht das Soldatische, sondern ein (komisiert aufgesetztes) Bad-Boy-Image, das kriminelle Vergangenheit und Affinität zur ⟶Gewalt als Grundlagen eines als klassisch gesehenen maskulinen Auftretens konstruiert.
Dagegen zeigt die Figur des Dr. Johann Bökh aus den inzwischen vier Verfilmungen des Klassikers Das fliegende Klassenzimmer (1933), dass gewisse heroische Eigenschaften auch in filmischen Darstellungen traditionellerer Lehrertopoi zu finden sind. Aufopferungsvoll lehnt sich der von den Schülern nur ‘Justus‘ (lat., der Gerechte) genannte Lehrer gerade gegen militaristisch wirkende Schulstrukturen auf, und erlangt so unter den Schülern einen ⟶Heldenstatus. Zumindest in der deutschen populärkulturellen Darstellung ist also die ⟶Heroisierung von spezifisch nicht-soldatischen Lehrerfiguren möglich.
Eine 2021/22 im Rahmen des SFB 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg durchgeführte Umfrage unter ca. 870 Schülerinnen und Schülern (SuS) deutet jedoch darauf hin, dass Lehrkräfte im Vergleich mit anderen Berufsbildern weder als heroisch noch als heroisierbar empfunden werden. Gefragt nach ihren Vorstellungen von heroischen Personen nannten die SuS im Bereich der Berufsgruppen vor allem medizinisches und Pflegepersonal sowie die bundesweiten Spitzenreiter von der ⟶Feuerwehr.4Umfrage unter ca. 870 SuS an weiterführenden Schulen im Großraum Freiburg i. B. im Rahmen des Teilprojekts Ö, Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“, 2020-2022. Die Lehrerinnen und Lehrer, die mit ihnen zwei Jahre Pandemie durchgestanden hatten, kamen in der Umfrage so gut wie gar nicht vor, obwohl die Mehrheit der Lehrenden ihre Dienstaufgaben nicht nur vielfach über Pflicht und erwartbares Maß hinaus erfüllt hatte, sondern sich auch noch in Online-Technologien eingearbeitet, neue Methoden angewandt, oder sie gleich selbst erfunden hatte.5Ein das Ergebnis beeinflussender Stolperstein könnte gewesen sein, dass die SuS die Fragebögen von ihren Lehrenden ausgeteilt bekamen, die diese auch wieder einsammelten und also an sie gerichtete Zuschreibungen von Heroismus hätten lesen können.
Der die eigene Person hintanstellende Einsatz, der hier aufscheint, ist eigentlich eine der einfacheren Definitionen des Heroischen. Gleichzeitig verläuft dieser Einsatz für Lehrende natürlich nicht punktuell und mit Blaulicht, sondern als wenig sichtbare Dauerschleife über Jahre hinweg. Oft geht es um nicht weniger als die Lebenszukunft der ihnen überantworteten Kinder und Jugendlichen, und die Lehrenden stemmen sich täglich gegen eine Phalanx von Negativkräften, die sich in wechselnder Abmischung aus Anspruchsdenken, durch Social Media induzierte oder verschärfte Über- (wahlweise: Minder-)wertigkeitskomplexe, Apathie und Ignoranz zusammensetzen (so jedenfalls die Sicht vieler Lehrenden). Solcherart in eine schier endlose und problematische Sinnstiftung verlängert, erscheint Lehrtätigkeit in der Tat nicht mehr als heroisierbar, sondern als durch sisyphodische Wiederholung und zudem durch Bürokratie, Lehrpläne und Obrigkeitlichkeit gegängelte Quälerei erfüllt allenfalls noch das in der Liste der typologischen Eigenschaften6Folgend Schlechtriemen, Tobias: „Der ‚Held‘ als Effekt. Boundary Work in Heroisierungsprozessen“. In: Berliner Debatte Initial 29.1 (2018), 106-119. heroischer Figuren enthaltene Merkmal der Agonalität (siehe ⟶Konstitutionsprozesse heroischer Figuren). Der reale oder vermeintliche Wettstreit ist mit Sicherheit Teil des Selbstbilds vieler Lehrender, allerdings nicht in einem positiven Verständnis, sondern im Sinne eines Kampfs mit den bildungsfernen Mächten der Finsternis: Was ist von einem Berufsverständnis zu halten, in dessen Rahmen Lehrende, die einander an diesem Tag noch nicht gesehen haben, in der Pause fragen, ob die anderen schon ‚Feindkontakt‘ hatten? Auch wenn dies ein nur anekdotisch belegter Einzelfall gewesen sein sollte, ist die dahinter erkennbare Tendenz beunruhigend.
Dabei verwenden die meisten der über ihren Beamtenstatus finanziell und sozial gut abgesicherten Staatsbediensteten vermutlich nur selten einen Gedanken auf das, was sie mit solchen Sprüchen implizieren, und was in gewalttätigeren Gesellschaften als der deutschen bzw. in ihren Schulen schon länger bitterer Alltag ist: Von 2018 bis einschließlich 2023 sind in den USA bei 182 ⟶Schießereien an Schulen wenigstens 122 Menschen getötet und 317 verletzt worden.7Education Week: „School Shootings over Time: Incidents, Injuries, and Deaths”. 04.01.2024, online unter: https://www.edweek.org/leadership/school-shootings-over-time-incidents-injuries-and-deaths (Zugriff am 20.05.2024). Auch wenn die Zahl der Angriffe in den USA 57 mal höher liegt als in europäischen Ländern und Kanada, sind gewalttätige Übergriffe auch in Deutschland nicht unbekannt, und Gewaltandrohungen gegenüber Lehrenden keine Seltenheit. Sie richten sich im Vergleich sogar öfter gegen Lehrkräfte als gegen Mitschüler – auffälligstes Beispiel hierfür ist der 26. April 2002, als ein ehemaliger Schüler des Gutenberg-Gymnasiums Erfurt zwölf Lehrerinnen und Lehrer, eine Verwaltungskraft, einen Polizisten und zwei Schüler erschoss.8Bondü, Rebecca / Meixner, Sabine / Bull, Heike Dele / Robertz, Frank J. / Scheithauer, Herbert: „Schwere, zielgerichtete Schulgewalt: School Shootings und ‚Amokläufe‘“. In: Scheithauer, Herbert / Hayer, Tobias / Niebank, Kay (Hg.): Problemverhalten und Gewalt im Jugendalter: Erscheinungsformen, Entstehungsbedingungen, Prävention und Intervention. Stuttgart 2008: Kohlhammer, 86-98. Dabei ist zu beachten, dass mehrere Opfer hätten gerettet werden können, wenn die Situation nicht seitens der Polizei falsch eingeschätzt worden wäre.
In der weit überwiegenden Mehrheit der Fälle sind die Lehrenden mit Gewaltandrohungen und -akten überfordert. Sie sind dafür auch nicht ausgebildet – ein nach den Ereignissen von Erfurt von der Berliner Senatsverwaltung herausgegebener Notfallordner sieht vor, dass nach der Warnung als erster Stufe die Schutzmaßnahmen für die Opfer – ohne Zwischenschritt – als Stufe Zwei folgen. Direkte Aktion im Sinne von (Selbst-)Verteidigung ist nicht vorgesehen.9Bondü et al.: „Schwere, zielgerichtete Schulgewalt“, 2008, 96. Die auch hier wieder sichtbare Hilflosigkeit lässt Lehrende in den Augen der SuS zwangsläufig noch weniger heroisierbar und bestenfalls als tragikomische Figuren erscheinen.
2. Autorität
Zentrales Problem hinter diesen Vorfällen ist eine besonders in den westlichen Demokratien verbreitete Krise jeglicher Form von Autorität. Was im Sinne einer demokratischen, erst recht einer republikanisch verfassten Gesellschaft eigentlich ein positiver Faktor sein müsste, wirkt in der Praxis negativ, weil die gleichzeitige Hyperindividualisierung im Rahmen eines konsumeristischen Leistungsdenkens die Mitglieder dieser Gesellschaft entsolidarisiert und sie ohne gleichzeitige Ausbildung von Verantwortlichkeit durchgehend immer wieder als Gewinner und Verlierer konstruiert.
Im Schulkontext sind die Hintergründe der Problemlage rückverfolgbar bis wenigstens ins wilhelminische Kaiserreich und die Periode des Biedermeier. Im 19. Jahrhundert war angesichts der Notwendigkeit einer Verbreiterung der Massenbildungsbasis im Interesse der national gewünschten Industrialisierung das Bildungssystem erweitert und zugänglicher gemacht worden. Gleichzeitig erfolgte eine Aufladung des Lehrpersonals mit staatstragender Autorität. Die daraus resultierende beachtliche (wenn auch unheroische) Machtfülle verlängerte den Arm des autoritären Staatssystems in die Schulen. Dieser mit der tatsächlichen Fach- und personalen Kompetenz nicht zwangsläufig korrelierte Autoritarismus wurde durch mehrere politische Systemwandel weitergetragen bis in die Adenauerzeit, als er längst anachronistisch und unhaltbar geworden war.
Stattdessen wurde seit den 60er Jahren die mit dem Lehrberuf verbundene Autorität in mehreren Reformen reduziert und entkräftet, ohne dass alternative Schul- und Beschulungsformate bereitgestellt worden wären. Als Schwundformen sind lediglich der Terror der Notengebung und diverse Methoden des Classroom Management (auch: Classroom Control) erhalten geblieben, wobei sich beide besonders in sozialen Brennpunktzonen als zunehmend ineffektiv erweisen.10Breidenstein, Georg: „Zensuren. Risiken und Nebenwirkungen“. In: Führer, Carolin / Magirius, Marco / Bohl, Thorsten / Grewe, Bernd-Stefan / Polleichtner, Wolfgang / Ulfat, Fahimah (Hg.): Relativität und Normativität von Beurteilungen. Tübingen 2023: Library Publishing, 23-30.
3. Reformer und Waffenmeister
Vor diesem Hintergrund entwickeln schon seit über hundert Jahren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Bereichen Pädagogik, Philosophie und Theologie sowie künstlerisch und schriftstellerisch Tätige Reformansätze, Modelle und idealtypische Konfigurationen des Nicht- oder sogar Anti-Autoritären.11Böhm, Winfried: Die Reformpädagogik. Montessori, Waldorf und andere Lehren. München 2012: C.H. Beck; Klafki, Wolfgang: „Schule: Regelschulen, Reformschulen, Privatschulen.“ In: Braun, Karl-Heinz / Stübig, Frauke / Stübig, Heinz (Hg.): Schulreformen und Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Wien 2021: Springer, 45-86. Schon Johann Heinrich Pestalozzi wollte die Vergabe von Noten abschaffen,12Rhyn, Heinz: „Beurteilung und Selektion im demokratischen Schulsystem. Ein argumentatives Potpurri“. In: Beiträge zur Lehrerbildung 17.1 (1999), 41-51, 43. und während über das ganze 20. Jahrhundert verteilt verschiedene, meist klandestine Reformprojekte wie die Odenwaldschule, die Waldorf-Schulen und die Landerziehungsheim-Bewegung glaubten, die jeweils selig machende Form gefunden zu haben,13Vgl. Oelkers, Jürgen: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. Weinheim 2005: Juventa. wurden tatsächlich erfolgversprechende Pläne wie die des Bundes Entschiedener Schulreformer in der Weimarer Republik von innen zerredet und von außen angefeindet, wenn sie nicht ohnehin an der Bildungsbürokratie aufliefen.14Bernhard, Armin / Eierdanz, Jürgen (Hg.): Der Bund Entschiedener Schulreformer. Eine verdrängte Tradition demokratischer Pädagogik und Bildungspolitik. Frankfurt am Main 1991: dipa. Zusätzliche Problematik entstand da, wo die jeweiligen Führungsfiguren einzelner Reformbewegungen von vornherein Züge para-religiöser Gurus trugen, sich in diese Richtung entwickelten, oder von ihren Anhängern – zum Teil auch erst postum – dazu gemacht wurden – eine Verklärungsstrategie, die in der Regel biographisch unhaltbar ist, der jeweiligen Bewegung aber einen mehr oder weniger sektenähnlichen Erhalt garantiert. Radikalere, über systemerhaltende Reformen hinausgehende Abweichungen vom Schulsystem sind bisher selten über Einzelprojekte hinausgewachsen.15Skiera, Ehrenhard: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart. Eine kritische Einführung. München 2010: Oldenbourg.
Wenn allerdings eine kritische Masse Lehrender und ganze Kollegien geschlossen dem bestehenden System die Gefolgschaft verweigerte, wären Veränderungen möglich.16Klemm, Ulrich: Anarchisten als Pädagogen. Profile libertärer Pädagogik. Frankfurt 2002: Edition AV. Schon die Bereitschaft, das Aufwachsen einer neuen, den Bedürfnissen aller besser entsprechenden Struktur von unten her zu ermöglichen, entspräche zwei der von Tobias Schlechtriemen als Komponenten des Heroischen beschriebenen Eigenschaften: Transgressivität – die Fähigkeit und Bereitschaft zur ⟶Überschreitung gesetzter Grenzen – sowie Außerordentlichkeit.17Schlechtriemen: „Der ‚Held‘ als Effekt“, 2018.
Der Konflikt zwischen Reform, Verhaftung im System, und dessen Überwindung, ist in Kästners Fliegendem Klassenzimmer anschaulich dargestellt. Die relative Regelmäßigkeit von Neuverfilmungen (die vorläufig letzte 2023; davor 1954 mit dem Autor des Romans, Erich Kästner, als Erzähler, und zwei etwas freiere Adaptionen 1973 und 2003) zeigt, dass die in diesem Text spezifische Behandlung des Themas nach wie vor relevant ist.
Die Verfilmungen zeigen eine Schulwelt, in der das Lehrersein durch vorgeschriebene Mittelmäßigkeit charakterisiert ist. Eine anachronistische Form von Lehrerautorität wird im Frontalunterricht und durch Strafen (einschließlich Notengebung) künstlich aufrechterhalten. Anstelle einer Resonanzsituation (im Sinne Hartmut Rosas)18Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt 2019: Suhrkamp., in der eine Person aufgrund ihrer (heroischen) Qualitäten als Autorität respektiert wird, steht (noch) eine rigide Ordnung, die keinen Legitimationsprozess durch die SuS kennt. Typisch für diese Schieflage ist die Figur des Deutschlehrers Kreuzkamm, dessen Performance als Lehrer durch schwere Diktate, ineffektive Gruppenbestrafungen sowie Vermeidung von Nahbarkeit charakterisiert ist.
Im Wortsinne sichtbar wird das in der „Papierkorb-Szene“, die sowohl im Buch als auch in den Verfilmungen eine zentrale Rolle spielt: Kreuzkamm entdeckt zu Beginn seiner Stunde, dass der kleine Uli, den einige Mitschüler wegen seiner körperlichen Unterlegenheit mobben, in einem an die Decke gehängten Papierkorb festsitzt. Seine Antwort auf die Situation ist eine Kette von Fehlreaktionen, die Hilflosigkeit signalisieren – von dem (offensichtlich unausführbaren) aggressiven Befehl, sofort herunterzukommen, bis zum Abbruch des Klärungsversuchs, wer für die Tat verantwortlich ist, da er nicht damit rechnet, eine Antwort zu bekommen.
‚Held‘ des Fliegenden Klassenzimmers ist dagegen der Hauslehrer ‚Justus‘ Bökh. Er agiert wiederholt transgressiv, insofern er Normen und Gewohnheiten überwindet und Regeln im-Interesse einer gerechteren Lösung uminterpretiert. Im Gegensatz zu Kreuzkamm reagiert ‚Justus‘ in einer vergleichbaren Szene der 2003 erschienenen Verfilmung mit Empathie und Flexibilität: Als in einem der wiederholt aufflammenden Konflikte mit einer verfeindeten Schülergruppe ein Stapel Hefte verbrennt, fragt er zunächst nach dem Wohlbefinden der Schüler, und dann nach den Gründen für den Regelverstoß. Er erkennt, dass das Handeln der Schüler moralisch richtig war, und legt das Strafmaß entsprechend milde fest.
Damit geht der von den Schülern als ‚der Gerechte‘ apostrophierte Lehrer noch über dieses Epithet hinaus: indem er die Schüler in die Bemessung des Strafmaßes einbezieht, riskiert er den Missbrauch seines Vertrauens und macht sich emotional angreifbar. Daraufhin erzählen ihm die Schüler die ganze Wahrheit und unterstellen sich damit wieder Bökhs Autorität. Lehrer und Schüler konstruieren gemeinsam eine Form von Lehrerautorität, die nicht durch das System vorgegeben ist und die Schüler in einer passiven Rolle hält, sondern nachhaltig wirken kann.
Bökhs potentielle Exemplarität als von den Schülern legitimierte Autoritätsperson wird dadurch unterlaufen, dass er wiederholt mit dem von Schlechtriemen definierten Heldenattribut der Außergewöhnlichkeit ausgezeichnet wird. Dessen Merkmal „Kontrast zur Allgemeinheit“19Vgl. Schlechtriemen: „Der ‚Held‘ als Effekt“, 2018, 112. trennt ihn vom Rest des Kollegiums und stellt ihn in kritische Distanz zum System Schule.
Für potentielle Nachahmer ist dies keine wirklich erstrebenswerte Position. So sehr Lehrkräfte sich nach wie vor in ihrer z. T. auch noch als heldenhaft missverstandenen sisyphodischen Vereinzelung als ‚Einzelkämpfer‘ apostrophieren – der Verlust der Deckung durch das System und den Apparat wird doch als traumatisierend empfunden. Revisionen des Autoritären erscheinen deshalb nicht als Ausbrüche, sondern im Rahmen des dem System Konformen wie der von dem Familienpsychologen Haim Omer entwickelten ‚Neuen Autorität‘, die aufbauend auf die Gewaltfreiheitsideologie der achtziger Jahre immerhin praktikable Reparaturansätze liefert.20Vgl. Buttinger, Agnes: „Wenn Zusammenarbeit zur Regel wird … – Möglichkeiten kollegialer Kooperation im Schulentwicklungskonzept der ‚Neuen Autorität‘“. In: Pädagogische Horizonte 2.2 (2018), 135-158. In diesem Umfeld nach den Qualitäten einer guten Lehrkraft gefragte Schülerinnen und Schüler gaben die folgenden Antworten:
• Sie seien fair,
• konsequent,
• würden einen interessanten Unterricht gestalten,
• die Beteiligung der Einzelnen bemerken
• seien bei der Sache und
• aufmerksam.
• Insbesondere hätten sie ein sichtbares Interesse an den Schülern – gerade auch außerhalb des Unterrichts – und
• seien offen für deren Anfragen.21Lemme, Martin / Körner, Bruno: ‚Neue Autorität‘ in der Schule. Präsenz und Beziehung im Schulalltag. Heidelberg 2018: Carl Auer.
Dieser praxisorientierte Katalog klingt nicht so, als sei ein damit ein besonders heroischer Aufwand verbunden – es handelt sich im Grunde um Selbstverständlichkeiten. Außerdem lehnten zumindest die Befragten Autorität als ⟶Handlungsmacht offenbar nicht nur nicht grundsätzlich ab, sondern formulierten in dieser Liste eine implizite Aufforderung zur konsequenten Umsetzung der zugewiesenen Aufgabe, wobei diese Aufgabe sowohl Führung als auch Zuwendung umfasst.
Ein richtungsweisendes Element ist der über die konkrete Lehr- / Lernsituation hinausreichende Wunsch der SuS, wahrgenommen zu werden. Damit erreichen Lehrkräfte weitere Bereiche dessen, was Tobias Schlechtriemen in seiner Charakterisierung des Heroischen beschrieben hat: affektive und moralische Aufgeladenheit sowie starke, menschliche Agency.22Schlechtriemen: „Der ‚Held‘ als Effekt“, 2018. Zusammen mit Transgressivität und Außerordentlichkeit ergibt sich daraus eine Konfiguration, die aber weniger dem gängigen Lehrerbild der Gegenwart entspricht als dem des mittelalterlichen Waffenmeisters und seiner modernen Fortsetzungen in Figuren wie Mr. Miyagi (in den Karate Kid-Filmen, gespielt von Pat Morita, und bezeichnenderweise ein Hausmeister, kein Lehrer). Die Verbindung zwischen diesem Typus von ‚Lehrmeistern‘ und ihren Akolythen lässt sich im Normalbetrieb zwischen den Lehrenden der Gegenwart und ihren Schülerinnen und Schülern in der Regel weder in Intensität noch Reichweite nachbilden. Sie scheint aber da auf, wo Lehrkräfte in außerordentlichen Situationen versuchen, für die ihnen anvertrauten Schülerinnen, Schüler und Studierenden einzustehen. Das kann die Hilfe bei der Suche nach Fördermöglichkeiten sein, der betreuende Einsatz bei persönlichen Problemen, oder der Streit um inhaltliche Positionen, die mit demokratischer Lehre unvereinbar wären.23Hixenbaugh, Mike: „A teacher spoke out against offering ‚opposing‘ views on the Holocaust. It derailed her career“. NBC News, 09.05.2024, online unter https://www.nbcnews.com/news/us-news/southlake-texas-holocaust-policy-teacher-rcna146861 (Zugriff am 20.05.2024).
Im Extremfall kann es heißen, in der Nachfolge Janusz Korczaks das eigene Leben einzusetzen und, da die muskulöse Autorität eines Richard Dadier letztlich dann doch die einer fiktionalen Figur und nicht für alle zugänglich oder emulierbar ist, es möglicherweise zu verlieren. Heroische Akte setzen aber keineswegs eine besondere Befähigung oder Disposition zum Heroischen voraus – es kann schlicht bedeuten, im richtigen Moment das Richtige zu tun. Zwei Ausnahmepersönlichkeiten, die bei der Verteidigung der ihnen anvertrauten jungen Menschen ihr Leben gelassen haben, seien exemplarisch genannt:
Liviu Librescu, gestorben am 16. April 2007 in Blacksburg, VA, als es einem psychisch derangierten Studenten gelang, über 30 seiner Mitstudierenden an der Virginia Technical University zu erschießen. Der zierliche 76-jährige Überlebende des Holocaust blockierte die Tür seines Seminarraums und ermöglichte so seinen Studierenden die Flucht durch ein Fenster. Librescus akademische Tätigkeit war bereits durch eine Reihe von akademischen Ehren einschließlich der Ehrendoktorwürde seiner ursprünglichen alma mater in Rumänien gewürdigt worden. Auf seinen selbstlosen Einsatz am 16. April 2007 hin erhielt er posthum eine Vielzahl von Anerkennungen, mehrere Stipendien wurden in seinem Namen eingerichtet.
Victoria Leigh Soto, gestorben am 14. Dezember 2012 in der Sandy Hook Elementary School, Newtown, CT. Die Grundschullehrerin versteckte mehrere Kinder und versuchte, sie mit ihrem eigenen Körper zu schützen, als der Massenmörder in ihren Erstklässler-Klassensaal eingedrungen war. Sie erhielt für ihren Einsatz unter anderem die Citizen’s Medal des amerikanischen Präsidenten, und eine Schule wurde nach ihr benannt.
4. References
- 1Saving Private Ryan. Dir Steven Spielberg. Paramount, 1998.
- 2The Horse Soldiers. Dir. John Ford. United Artists, 1959.
- 3Blackboard Jungle. Dir Richard Brooks, MGM, 1955.
- 4Umfrage unter ca. 870 SuS an weiterführenden Schulen im Großraum Freiburg i. B. im Rahmen des Teilprojekts Ö, Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“, 2020-2022.
- 5Ein das Ergebnis beeinflussender Stolperstein könnte gewesen sein, dass die SuS die Fragebögen von ihren Lehrenden ausgeteilt bekamen, die diese auch wieder einsammelten und also an sie gerichtete Zuschreibungen von Heroismus hätten lesen können.
- 6Folgend Schlechtriemen, Tobias: „Der ‚Held‘ als Effekt. Boundary Work in Heroisierungsprozessen“. In: Berliner Debatte Initial 29.1 (2018), 106-119.
- 7Education Week: „School Shootings over Time: Incidents, Injuries, and Deaths”. 04.01.2024, online unter: https://www.edweek.org/leadership/school-shootings-over-time-incidents-injuries-and-deaths (Zugriff am 20.05.2024).
- 8Bondü, Rebecca / Meixner, Sabine / Bull, Heike Dele / Robertz, Frank J. / Scheithauer, Herbert: „Schwere, zielgerichtete Schulgewalt: School Shootings und ‚Amokläufe‘“. In: Scheithauer, Herbert / Hayer, Tobias / Niebank, Kay (Hg.): Problemverhalten und Gewalt im Jugendalter: Erscheinungsformen, Entstehungsbedingungen, Prävention und Intervention. Stuttgart 2008: Kohlhammer, 86-98. Dabei ist zu beachten, dass mehrere Opfer hätten gerettet werden können, wenn die Situation nicht seitens der Polizei falsch eingeschätzt worden wäre.
- 9Bondü et al.: „Schwere, zielgerichtete Schulgewalt“, 2008, 96.
- 10Breidenstein, Georg: „Zensuren. Risiken und Nebenwirkungen“. In: Führer, Carolin / Magirius, Marco / Bohl, Thorsten / Grewe, Bernd-Stefan / Polleichtner, Wolfgang / Ulfat, Fahimah (Hg.): Relativität und Normativität von Beurteilungen. Tübingen 2023: Library Publishing, 23-30.
- 11Böhm, Winfried: Die Reformpädagogik. Montessori, Waldorf und andere Lehren. München 2012: C.H. Beck; Klafki, Wolfgang: „Schule: Regelschulen, Reformschulen, Privatschulen.“ In: Braun, Karl-Heinz / Stübig, Frauke / Stübig, Heinz (Hg.): Schulreformen und Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Wien 2021: Springer, 45-86.
- 12Rhyn, Heinz: „Beurteilung und Selektion im demokratischen Schulsystem. Ein argumentatives Potpurri“. In: Beiträge zur Lehrerbildung 17.1 (1999), 41-51, 43.
- 13Vgl. Oelkers, Jürgen: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. Weinheim 2005: Juventa.
- 14Bernhard, Armin / Eierdanz, Jürgen (Hg.): Der Bund Entschiedener Schulreformer. Eine verdrängte Tradition demokratischer Pädagogik und Bildungspolitik. Frankfurt am Main 1991: dipa.
- 15Skiera, Ehrenhard: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart. Eine kritische Einführung. München 2010: Oldenbourg.
- 16Klemm, Ulrich: Anarchisten als Pädagogen. Profile libertärer Pädagogik. Frankfurt 2002: Edition AV.
- 17Schlechtriemen: „Der ‚Held‘ als Effekt“, 2018.
- 18Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt 2019: Suhrkamp.
- 19Vgl. Schlechtriemen: „Der ‚Held‘ als Effekt“, 2018, 112.
- 20Vgl. Buttinger, Agnes: „Wenn Zusammenarbeit zur Regel wird … – Möglichkeiten kollegialer Kooperation im Schulentwicklungskonzept der ‚Neuen Autorität‘“. In: Pädagogische Horizonte 2.2 (2018), 135-158.
- 21Lemme, Martin / Körner, Bruno: ‚Neue Autorität‘ in der Schule. Präsenz und Beziehung im Schulalltag. Heidelberg 2018: Carl Auer.
- 22Schlechtriemen: „Der ‚Held‘ als Effekt“, 2018.
- 23Hixenbaugh, Mike: „A teacher spoke out against offering ‚opposing‘ views on the Holocaust. It derailed her career“. NBC News, 09.05.2024, online unter https://www.nbcnews.com/news/us-news/southlake-texas-holocaust-policy-teacher-rcna146861 (Zugriff am 20.05.2024).
5. Ausgewählte Literatur
- Bernhard, Armin / Eierdanz, Jürgen (Hg.): Der Bund Entschiedener Schulreformer. Eine verdrängte Tradition demokratischer Pädagogik und Bildungspolitik. Frankfurt am Main 1991: dipa.
- Böhm, Winfried: Die Reformpädagogik. Montessori, Waldorf und andere Lehren. München 2012: C.H. Beck.
- Bondü, Rebecca / Meixner, Sabine / Bull, Heike Dele / Robertz, Frank J. / Scheithauer, Herbert: „Schwere, zielgerichtete Schulgewalt: School Shootings und ‚Amokläufe‘“. In: Scheithauer, Herbert / Hayer, Tobias / Niebank, Kay (Hg.): Problemverhalten und Gewalt im Jugendalter: Erscheinungsformen, Entstehungsbedingungen, Prävention und Intervention. Stuttgart 2008: Kohlhammer, 86-98.
- Brooks, Richard (Dir.): Blackboard Jungle. MGM 1955.
- Education Week: „School Shootings over Time: Incidents, Injuries, and Deaths”. 04.01.2024, online unter: https://www.edweek.org/leadership/school-shootings-over-time-incidents-injuries-and-deaths (Zugriff am 20.05.2024).
- Ford, John (Dir.): The Horse Soldiers. United Artists 1959.
- Hoffmann, Kurt (Dir.): Das fliegende Klassenzimmer. Universum Film AG, 1954.
- Kästner, Erich: Das fliegende Klassenzimmer. Stuttgart 1933: Deutsche Verlags-Anstalt.
- Jacobs, Werner (Dir.): Das fliegende Klassenzimmer. Constantin Film, 1973.
- Klafki, Wolfgang: „Schule: Regelschulen, Reformschulen, Privatschulen“. In: Braun, Karl-Heinz / Stübig, Frauke / Stübig, Heinz (Hg.): Schulreformen und Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Wien 2021: Springer, 45-86.
- Klemm, Ulrich: Anarchisten als Pädagogen. Profile libertärer Pädagogik. Frankfurt 2002: Edition AV.
- Lemme, Martin / Körner, Bruno: ‚Neue Autorität‘ in der Schule. Präsenz und Beziehung im Schulalltag. Heidelberg 2018: Carl Auer.
- Link, Caroline (Dir.): Das fliegende Klassenzimmer. Constantin Film, 2023.
- Hixenbaugh, Mike: „A teacher spoke out against offering ‚opposing‘ views on the Holocaust. It derailed her career“. NBC News, 09.05.2024, online unter: https://www.nbcnews.com/news/us-news/southlake-texas-holocaust-policy-teacher-rcna146861 (Zugriff am 20.05.2024).
- Oelkers, Jürgen: Reformpädagogik: eine kritische Dogmengeschichte. Weinheim 2005: Juventa.
- Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt 2019: Suhrkamp.
- Schlechtriemen, Tobias: „Der ‚Held‘ als Effekt. Boundary Work in Heroisierungsprozessen“. In: Berliner Debatte Initial 29.1 (2018), 106-119.
- Spielberg, Steven (Dir.): Saving Private Ryan. Paramount 1998.
- Skiera, Ehrenhard: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart. Eine kritische Einführung. München 2010: Oldenbourg.
- Wigand, Tomy (Dir.): Das fliegende Klassenzimmer. Bavaria Film, 2003.