- Version 1.1
- publiziert am 18. Februar 2020
Inhalt
1. Definition
Die Suche nach „Nationalhelden“ fördert Verweise auf literarische und historisch belegte, antike und gegenwärtige, namentlich benannte und anonyme Einzelfiguren und ⟶Kollektive zutage. Das Konzept des Nationalhelden ist keine trennscharfe Kategorie, sondern vielmehr ein Konstrukt, für das weniger die tatsächlichen Verdienste der ⟶Heldenfigur – oder auch nur ihre Existenz – ausschlaggebend sind als vielmehr eine Vorstellung von derjenigen Nation, mit der sie verknüpft werden. Nationalhelden sind Personen, denen zugeschrieben wird, ebendiese Nation begründet, mitbegründet oder verteidigt zu haben oder aber ihr zu Macht oder Ansehen verholfen zu haben. Nationalhelden bedürfen also zunächst einer Nation als „imaginierter Gemeinschaft“1Vgl. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London 2006: Verso. oder zumindest der Idee einer solchen Nation, auf deren Grundlage dann staatliche, gesellschaftliche oder mediale Akteure bestimmten Personen den Status von Nationalhelden zusprechen. Diese Zuschreibung ist oft konfliktbehaftet und kann von unterschiedlicher Dauer sein. Nicht nur die Konjunkturen von Nationalhelden, sondern auch die Charakterisierung der Verdienste, die ihnen zugeschrieben werden, können im Zuge der Transformation von politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen tiefgreifenden Veränderungen unterliegen.2Vgl. Langewiesche, Dieter: „Vom Scheitern bürgerlicher Nationalhelden. Ludwig Uhland und Friedrich Ludwig Jahn“. In: Historische Zeitschrift 278.1 (2004), 375–398.
2. Nation und Nationalheld
Eine Grundvoraussetzung dafür, dass eine Nation entstehen kann, ist die Existenz von Institutionen, die einer großen Gruppe von Menschen die Vorstellung vermitteln können, eine Gemeinschaft zu bilden, obwohl sie sich untereinander zum größten Teil nicht kennen und niemals kennen werden. Dies geschieht zum Beispiel durch das Bildungswesen, durch ⟶Medien, Museen, organisierte Rituale und Orte der Inszenierung. Diese Institutionen bedürfen einer Symbolik, die die Nation für ihre Mitglieder greifbar macht, von anderen Gemeinschaften abgrenzt und von möglichst allen Mitgliedern der vorgestellten Gemeinschaft erkannt wird.3Vgl. Anderson: Imagined Communities, 2006, 6. Diese Funktion können Nationalhelden übernehmen. Wenn sie zum Bestandteil des ⟶kollektiven Gedächtnisses werden, konstituiert sich durch ihre Verehrung die Nation als „imaginierte Gemeinschaft“ und manifestiert sich in ihr das, wodurch sich diese Gemeinschaft definiert und von anderen abgrenzt.
„Im Nationalhelden entwirft die Gesellschaft ihr Selbstbild, mit dem sie in die Geschichte blickt, um die Gegenwart aus der Vergangenheit zu rechtfertigen oder auch zu kritisieren – ein Geschichtsbild, mit dem immer auch Zukunft eingefordert wird, ganz gleich ob es die Gegenwart preist oder verwirft. Der Nationalheld dient dazu, diese Geschichtsvisionen, mit denen die Vergangenheit auf die Gegenwart ausgerichtet wird, vor aller Augen zu stellen, ihnen öffentliche Geltung zu verschaffen und damit Wirkungsmacht zu verleihen. In dem Bild, das man von dem Nationalhelden zeichnet, werden die Eigenschaften formuliert, in denen sich ein Staat, eine Gesellschaft nach innen als Einheit erkennen will und mit denen sie sich nach außen abgrenzt. Im Angesicht des Nationalhelden entscheidet sich also, wer zur Nation gehört und wer nicht, wie sich diese Nation in ihrer Eigenheit bestimmt und was sie ausschließt. Deshalb ist der Nationalheld immer eine umstrittene Figur. Wer einen Nationalhelden erschafft, wer festlegt, welche Tugenden er verkörpert, für welche Vergangenheit und Ziele er steht, darf hoffen, im Deutungskampf um das Selbstverständnis der Nation zu siegen. Bei der Erschaffung von Nationalhelden geht es also um Machtkämpfe. Gekämpft wird um die politische Symbolik, in der sich die Nation repräsentiert sieht.“4Langewiesche: „Vom Scheitern bürgerlicher Nationalhelden“, 2004, 376.
Dieser Repräsentation einer Nation liegt eine Vorstellung davon zugrunde, was diese Nation konstituiert, wen sie umfasst, welches geographische Territorium sie abdeckt und wer von ihr ausgeschlossen ist. Auf der Basis dieser Vorstellung können dann Heldenfiguren jeglicher Art in das nationale Narrativ integriert werden oder herangezogen werden, um es mitzugestalten, wenn sich ihnen nur eine Verbindung zum Volk oder dem Gebiet der Nation zuschreiben lässt. Ob diese Verbindung der Selbstwahrnehmung der Person entspricht, auf die sich das Heldennarrativ bezieht, ist für diese Zuschreibung nicht ausschlaggebend.
Ein Nationalheld ist, völlig ungeachtet seiner historischen Existenz, seines realen Wirkens und seiner Motive dann ein Nationalheld, wenn er gesellschaftliche Anerkennung erlangt; sobald ihm diese versagt wird, hört er auf, ein Nationalheld zu sein.5Vgl. Langewiesche: „Vom Scheitern bürgerlicher Nationalhelden“, 2004, 375. Allerdings erweisen sich Nationalhelden bisweilen als hochgradig resilient. Sie können auch tiefgreifende Systemwechsel überstehen, die bisweilen mit Umdeutungen, keineswegs immer aber mit der Verdrängung etablierter Nationalhelden verbunden sind, wie am Beispiel des bulgarischen Nationalhelden Vasil Levski (1837–1873) gezeigt worden ist, der für die unterschiedlichsten Anliegen vereinnahmt wurde und mit dem sich eine Vielzahl an Interessengruppen und Regimen identifizierte.6Vgl. Todarova, Maria: Bones of Contention. The Living Archive of Vasil Levski and the Making of Bulgaria’s National Hero. Budapest 2009: Central European University Press.
Im Extremfall wird ein Nationalheld so stark mit der Nation selbst identifiziert, dass viele Angehörige dieser Nation Versuche der historischen Kontextualisierung, der Kritik oder gar der Dekonstruktion des Heldenstatus als Angriff auf die Nation selbst verstehen (vgl. Abschnitt 5). Umgekehrt deutete der philippinische Autor Alejandro R. Roces die Existenz des Nationalhelden José Rizal (1861–1896), der von den spanischen Kolonialherren hingerichtet wurde, als Garanten für Stolz und Größe der philippinischen Nation (vgl. Quelle 1).
Much has been said through time about Jose Rizal, the man we know from our history books to be the great Philippine national hero, martyred for defending the cause of the nation and its people during the Spanish occupation. He, to me, is still unmatched as the most remarkable Filipino in history, with his multiple skills and extraordinary intelligence and wit. Years after his execution, his story of heroism still echo [sic], though sometimes, its significance lost in the repetitive stories commonly told about his life and death, and the recitation of important events and achievements surrounding his personhood. […]
His words and deeds became a stirring example and inspiration to other Filipinos who would later become enshrined in the pages of history as great heroes in their time. […] The greatest example he bequeathed to generations after him and up to the present was the peaceful but inspiring way that he awakened the consciousness of a people who were then nestled in a convenient but shackling colonial rule […]
[…] he made his life, not only a useful one, but one that excelled and shines brightly to this day. He is the cornerstone that served as a strong foundation of Philippine democracy. […] More than a century after his death, the memory of Rizal’s life and works empowers and inspires Filipinos and even other nationalities to emerge as unique and outstanding people in a new and complex global village. Despite its many problems, our race stands proud and jubilant because it has a hero like Rizal.
Quelle: Roces, Alejandro R.: „Rizal and the martyrs of our time“. In: Philstar Global, 18. Juni 2009. Online unter: https://www.philstar.com/opinion/2009/06/18/478323/rizal-and-martyrs-our-time (Zugriff am 09.10.2019).
Der gesellschaftlichen Anerkennung als Nationalheld geht die Vermittlung des Wissens um die Heldenfigur und eines Bildes von ihr voraus. Sie bedarf daher des Zugriffs auf Institutionen, Medien und öffentliche Formen der Repräsentation.
3. Vermittlung und Repräsentation
Figur und Bild eines Nationalhelden werden auf unterschiedlichen Wegen vermittelt. Von großer Bedeutung ist die Geschichtsschreibung, insbesondere die Form von Geschichtsschreibung, die in Schulen vermittelt wird, vor allem in Staaten mit einem öffentlichen Schulwesen.7Vgl. Hutchins, Rachel D.: „Heroes and the renegotiation of national identity in American history textbooks: representations of George Washington and Abraham Lincoln, 1982–2003“. In: Nations and Nationalism 17.3 (2011), 649–668; Ranger, Terence: „Nationalist Historiography, Patriotic History and the History of the Nation: the Struggle over the Past in Zimbabwe“. In: Journal of Southern African Studies 30.2 (2004), 215–234; Shimony, Tali Tadmor: „The Pantheon of national heroprototypes in educational texts. Understanding curriculum as a narrative of national heroism“. In: Jewish History 17 (2003), 309–332. In der Nationalismusforschung wurde weiterhin die zentrale Rolle des print-capitalism betont, des kommerziellen Druckwesens, das großen Gruppen von Menschen den nahezu simultanen Zugang zu in identischer Weise artikulierten Ideen ermöglichte.8Anderson: Imagined Communities, 2006, 37-46. In der jüngeren Forschung wurde darauf hingewiesen, dass spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts das Konzept auf eine breitere Palette von Medien ausgeweitet werden müsse, die zum Beispiel auch Tonträger einschließe.9Fahmy, Ziad: Ordinary Egyptians. Creating the Egyptian Nation through Popular Culture. Stanford University Press 2011: Stanford. Diese dienten unter anderem der Verbreitung nationalistischer Lieder und Theaterstücke. Im 20. Jahrhundert kamen audiovisuelle Medien hinzu. Künstlerische Formen der Heldendarstellung etwa in Romanen, Theaterstücken, Gedichten, Liedern, Filmen, ⟶Opern, Gemälden und Statuen können stark zur Etablierung von Nationalhelden beitragen oder sie als Figuren überhaupt erst erschaffen, wie etwa im Falle des Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell, der als historische Person nicht belegbar ist, aber durch zahlreiche Denkmäler, Texte, Volkstheaterstücke und schließlich durch Friedrich Schillers Drama weithin popularisiert wurde.10Vgl. De Capitani, François: „Wilhelm Tell“. In: Historisches Lexikon der Schweiz, 17. Dezember 2013. Online unter: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017475/2013-12-17/ (Zugriff am 09.10.2019). Schließlich spielt der Totenkult eine besondere Rolle, was die Pflege und Präsentation des Grabes, die Exhumierung und Umbettung sterblicher Überreste sowie Jahrestage und mit dem ⟶Tod des Nationalhelden oder seiner letzten Ruhestätte verbundene Rituale umfassen kann; in diesem Zusammenhang ist auf die Parallele zum religiösen Umgang mit Reliquien hingewiesen worden, die darauf hindeutet, dass sich in der Nationalheldenverehrung Kontinuitäten zu früheren, insbesondere auch religiösen Formen der Heldenverehrung finden.11Vgl. Todarova: Bones of Contention, 2009.
Mit Bezug auf Nationaldenkmäler und ihr Verhältnis zum „nationalen Bewusstsein“ ist auf zwei Einschränkungen aufmerksam gemacht worden, die auch auf die Konstruktion und Vermittlung von Nationalhelden zutreffen. Zum einen stehen bestimmte Vermittlungs- und Repräsentationsformen überwiegend oder ausschließlich etablierten und dominanten Gruppen, bisweilen allein dem Staat zur Verfügung. Dies gilt zum Beispiel für die Ausgestaltung der Lehrpläne öffentlicher Schulen und die Nutzung des öffentlichen Raumes etwa durch Denkmäler und Straßennamen. Marginalisierte und oppositionelle Gruppen haben deutlich weniger Möglichkeiten, ihrer abweichenden Idee der Nation Gehör zu verschaffen, wenn auch das konkrete Ausmaß der Differenz stark von dem Grad an Freiheiten innerhalb des jeweiligen Staates abhängt, etwa der Presse- und Kunstfreiheit. Zum anderen können künstlerische Formen der Heldendarstellung nicht auf ihren nationalistischen Gehalt reduziert werden, sondern verfügen über eine ästhetische Dimension, die unter Umständen eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt.12Nipperdey, Thomas: „Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert“. In: Historische Zeitschrift 206.1 (1968), 529–585.
4. Typologie
Das Konzept des Nationalhelden umfasst sowohl die Verehrung herausgehobener, als exzeptionell wahrgenommener Figuren als auch die Vorstellung eines heroischen Kollektivs, dem alle Bürger angehören können. Die letztgenannte Vorstellung kann unter anderem in Kriegerdenkmälern und Soldatenfriedhöfen, aber auch in Form der Verleihung von ⟶Orden und Ehrungen an lebende Personen zum Ausdruck kommen. Zahlreiche Staaten wie etwa Uganda, Namibia und die Philippinen haben Gedenktage oder Heldenäcker für ihre Nationalhelden (vgl. Abb. 1), bei denen häufig die Verehrung einer größeren Gruppe namentlich benannter Personen mit der Ehrung eines anonymen Kollektivs verknüpft wird, etwa in Form eines Denkmals des ⟶Unbekannten Soldaten (siehe auch ⟶Dekolonisation).
Nationalheldentum wird in sehr unterschiedlichem Maße durch Staaten und ihre Regierungen oder Volksvertretungen definiert. In manchen Ländern existiert ein höchst formalisierter Heldenkult. So werden etwa in Indonesien Personen posthum durch das Parlament zu Nationalhelden und -heldinnen erklärt; das Resultat ist eine abgeschlossene Liste fest definierter Nationalhelden und -heldinnen, die gelegentlich erweitert wird.13Vgl. Barnard, Timothy P.: „Local Heroes and National Consciousness. The Politics of Historiography in Riau“. In: Bijdragen tot de Taal-, Land- en Volkenkunde 153.4 (1997), 509–526; Schreiner, Klaus: „The Making of National Heroes. Guided Democracy to New Order“. In: Schulte Nordholt, Henk (Hg.): Outward Appearance. Dressing State and Society in Indonesia. Leiden 1997: KITLV Press, 259–290; Schreiner, Klaus H.: „‚National Ancestors‘. The Ritual Construction of Nationhood“. In: Chambert-Loir, Henri/ Reid, Anthony (Hg.): The Potent Dead. Ancestors, Saints and Heroes in Contemporary Indonesia. Crows Nest und Honolulu 2002: Allen & Unwin / University of Hawai’i Press, 183–204. In vielen Staaten existiert ein derart formalisierter Nationalheldenstatus nicht, sodass die Frage der Definition von Nationalhelden in weitaus stärkerem Maße gesellschaftlichen und medialen Diskursen überlassen bleibt. Dies schließt allerdings nicht aus, dass staatliche Institutionen diese Diskurse aufgreifen oder sie beeinflussen, indem sie zum Beispiel ihre Möglichkeiten der Benennung von Straßen, Plätzen und Schulen oder der Gestaltung des öffentlichen Raumes nutzen. Der Übergang zwischen informellen Formen der Heldenverehrung und einer formalen Ernennung zum Nationalhelden durch den Staat ist also fließend.
Ebenso fließend ist die Unterscheidung zwischen mythologischen und historischen Heldenfiguren. Die Bandbreite zwischen historisch nicht belegbaren Personen wie Wilhelm Tell und solchen Personen, deren Leben und Handeln bestens dokumentiert und – in dieser dokumentierbaren Form – weithin bekannt sind, ist groß. Die meisten Fälle der Nationalheldenverehrung dürften zwischen diesen Extremen angesiedelt sein: Historisch belegbare Personen erfahren eine Verehrung, die durch genau diejenigen Prozesse des selektiven Erinnerns und Verdrängens gekennzeichnet ist, die für das Konstrukt einer Nation charakteristisch sind.14Vgl. Renan, Ernest: Qu’est-ce qu’une nation? Paris 1991: Bordas. Die Heldenerinnerung wird medial geformt und das Erbe des Helden wird kanonisiert. Oft kommt es zu einer Ritualisierung der Heldenerinnerung; in manchen Fällen erreicht der Nationalheld einen solch hohen Status, dass er zum Gegenstand von Wiedergeburtsvorstellungen wird, wenn nämlich später lebenden Personen zugesprochen wird, eine Reinkarnation des Nationalhelden zu darzustellen.15Vgl. Todarova: Bones of Contention, 2009, 477–501; vgl. auch Roces: „Rizal and the martyrs“, 2009. In der Heldenerinnerung werden Merkmale und Episoden herausgegriffen, die dem Heldenstatus zuträglich sind, und solche negiert oder umgedeutet, die ihm abträglich sind.16Vgl. Valenzuale, Maria Theresa: „Constructing National Heroes. Postcolonial Philippine and Cuban Biographies of José Rizal and José Martí“. In: Biography 37.4 (2014), 745–761. Wenn historisch belegbare biographische Merkmale vorliegen, die einem heroischen Präfigurat entsprechen, wie etwa der Aufstieg aus einfachen Verhältnissen oder der Märtyrertod, dann garantiert dies zwar nicht die Erhöhung einer Person zum Nationalhelden, begünstigt sie aber doch, indem es dazu beiträgt, dass der Heldenstatus nicht als Konstrukt, sondern als ontologische Tatsache wahrgenommen wird.17Vgl. Todarova: Bones of Contention, 2009, 191–201.
Gerade der Märtyrerstatus trägt zudem dazu bei, etwaige Ambiguitäten, die der Biographie des Nationalhelden innewohnen mögen, zu überdecken, denn der Held hat das größte Opfer für die Nation erbracht. Damit ruft er nicht nur andere auf, ebensolche Opfer zu erbringen, um am Glanz seines Heldentums teilzuhaben, sondern es verbieten sich auch jegliche Zweifel an seinen Loyalitäten und seiner Hingabe an die nationale Sache.18Vgl. Shimony: „The Pantheon“, 2003, 317. „The social function of the martyr is, on the one hand, exemplary, in that he is a model to follow; on the other hand, the deceased martyr is a sacred symbol of an authority around which society rallies. At the same time, martyrdom is an unambiguous political act […].“19Vgl. Todarova: Bones of Contention, 2009, 455. (Siehe auch ⟶Martyrium.)
Eine Form der Ambiguität, die der Biographie etlicher Nationalhelden zu eigen ist, liegt in der Tatsache, dass diese Personen zu einer Zeit lebten, zu der die Idee der Nation, als deren Vorkämpfer sie posthum definiert wurden, noch überhaupt nicht existierte. Denn nicht nur Figuren, die konkret in die Begründung oder Verteidigung eines Nationalstaates oder zumindest den Kampf um einen solchen Staat involviert waren, wie etwa Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938), werden als Nationalhelden verehrt, sondern auch Menschen, die lange vor dem Aufkommen einer solchen Idee wirkten und ihrem eigenen Selbstverständnis zufolge keineswegs für das ihnen unbekannte Konzept einer ethnisch, sprachlich, kulturell oder politisch definierten Nation kämpften, sondern zum Beispiel für ständische, dynastische oder wirtschaftliche Interessen. Dazu zählt etwa der javanische Prinz Diponegoro (1785–1855), ein Adliger, der offiziell zum Nationalhelden der Republik Indonesien ernannt wurde, aber keinen Begriff von einem solchen Konstrukt hatte, das erst im 20. Jahrhundert überhaupt Gegenstand einer nationalistischen Bewegung wurde. Seine Bestrebungen richteten sich vielmehr auf die Unterwerfung Javas, und obwohl er heute als wichtiger Kämpfer gegen die niederländische Kolonialmacht verehrt wird, hatte er auch von dieser kaum einen Begriff.20Vgl. Anderson: Imagined Communities, 2006, 11, Fn. 4; Anderson, Benedict: „Indonesian Nationalism Today and in the Future“. In: Indonesia 67 (1999), 5.
Oft wird diese Ambiguität aufgelöst, indem solche Personen von ihren Verehrern als Vertreter einer primordialen Nation betrachtet werden, die für einen bedeutenden Moment in der Geschichte das schlummernde nationale Bewusstsein ihres Volkes erweckt hätten. Dieses Bewusstsein sei zwar in der Folge möglicherweise wieder für Jahrhunderte zum Erliegen gekommen, doch hätten die modernen nationalistischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts in der ⟶imitatio des früheren Helden die Flamme des nationalen Empfindens wieder entfacht. Ein Beispiel für die Konstruktion von Helden im Rahmen einen derartigen primordialen Nationalismus ist die ⟶Heroisierung des spätmittelalterlichen Heerführers Skanderbeg, der im 20. Jahrhundert zum albanischen Nationalhelden par excellence und Begründer der albanischen Nation stilisiert wurde.
5. Fallstudie: Skanderbeg als albanischer Nationalheld
Gjergj Kastrioti, bekannt unter seinem osmanischen Namen Skanderbeg (1405–1468), war ein christlicher Adeliger und Heerführer, der ursprünglich im Dienst der Osmanen stand, sich aber in den 1440er Jahren von ihnen lossagte, um als unabhängiger Herrscher ein kleines Gebiet zu regieren. Er führte zeitweise eine Allianz albanischer Adeliger – und Angehöriger anderer ethnischer Gruppen des Balkans – gegen die Osmanen und verbündete sich später mit Neapel und Venedig. Viele Details seines Lebens sind umstritten, da die Quellenlage lückenhaft ist, die biographischen Quellen teils mythologischen Charakter haben und ab Beginn des 20. Jahrhunderts nationalistische und religiöse Strömungen danach strebten, die Figur Skanderbegs für sich zu vereinnahmen.
Es war schon wenige Jahrzehnte nach dem Tod des Fürsten zu einer literarischen Verarbeitung des Skanderbeg-Motivs gekommen. In der vom Genre des Ritterromans geprägten Biographie des katholischen Geistlichen Marinus Barletius (st. ca. 1512/13) sowie zahlreichen weiteren Werken der Literatur und Kunst wurde er zum Athleta Christi gegen die Muslime stilisiert, im Zuge des westeuropäischen Philhellenismus im frühen 19. Jahrhundert vereinzelt sogar als Grieche wahrgenommen. Generell war in der frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert die Skanderbeg-Verehrung eher in Mittel- und Westeuropa beheimatet als in Albanien selbst, wo unter osmanischer Herrschaft die Mehrheit der Bevölkerung den Islam annahm und die Figur Skanderbegs über geringe ⟶Attraktionskraft verfügte.21Vgl. Schmidt-Neke, Michael: „Nationalism and national myth. Skanderbeg and the twentieth-century Albanian regimes“. In: The European Legacy. Toward New Paradigms 2.1 (1997), 1–7, hier 1; Schmidt-Neke, Michael: „Skanderbegs Gefangene. Zur Debatte um den albanischen Nationalhelden“. In: Südosteuropa 58.2 (2010), 273–302, hier 273–274.
Erst als sich in Albanien im 19. Jahrhundert eine Nationalbewegung herausbildete, gewann die Figur Skanderbegs an Popularität als eines der wenigen Motive, die zur Verfügung standen, um die sprachlich und religiös diverse sowie politisch zersplitterte Bevölkerung anzusprechen. Die Unabhängigkeitsbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts nutzte Skanderbegs Banner mit dem doppelköpfigen Adler vielleicht zum ersten Mal im Zuge des Versuchs einer Unabhängigkeitserklärung in Orosh 1911, besonders eindrücklich und wirksam dann im Zuge des Nationalkongresses in Vlora 1912, der in einen ersten, kurzlebigen albanischen Staat mündete.22Vgl. Elsie, Robert: Historical Dictionary of Albania. Lanham 2010: Scarecrow, 444; Schmidt-Neke: „Nationalism and national myth“, 1997, 2.
In der Zwischenkriegszeit rangen verschiedene Interessengruppen um die Macht, die jeweils versuchten, Skanderbeg für ihre eigene Herrschaft und Vorstellung von der Nation zu nutzen.23Vgl. Schmidt-Neke: „Nationalism and national myth“, 1997, 2. Damals – wie auch in den darauffolgenden Epochen der Geschichte des albanischen Nationalstaats – diente die Figur Skanderbegs einerseits der Herrschaftslegitimation, wobei sie unter unterschiedlichen politischen Systemen etliche Umdeutungen erfuhr, und andererseits war sie verwoben mit der Aushandlung der albanischen Identität als mehrheitlich muslimisches Land in Südosteuropa. Ob der Islam konstitutiver Teil der nationalen Identität oder nur widerwillig, vorübergehend, oberflächlich und unter Zwang angenommen worden war, ob das Land sich in den slawischen Raum oder nach Westeuropa orientieren oder auf Eigenständigkeit bis hin zur Isolation setzen solle, ob es prädestiniert für eine Monarchie, eine Demokratie oder ein sozialistisches System sei, wie es seine Grenzen und sein Verhältnis zur Türkei, zu Serbien, Italien und den albanisch besiedelten Territorien etwa im Kosovo und in Nordmazedonien definiert – dies alles sind Fragen, die spätestens seit den 1920er Jahren bitter umkämpft waren und prominent auch anhand der Ausdeutung des Nationalhelden Skanderbeg verhandelt wurden.24Vgl. Schmidt-Neke: „Skanderbegs Gefangene“, 2010.
Der orthodoxe Bischof und albanische Nationalist Fan Noli (1882–1965), der das bürgerliche Lager anführte und 1924 kurzzeitig Premierminister war, veröffentlichte 1921 mit der „Geschichte Skanderbegs“ die erste moderne Biographie des Nationalhelden, der ihm neben Jesus und Napoleon als größtes Vorbild diente. Fan Noli bemühte sich darum, Skanderbegs militärische Errungenschaften im Krieg gegen die Osmanen über jeden Zweifel zu erheben. Er bezeichnete diese als „Kreuzzug“ und betonte die christliche Identität Skanderbegs und seiner Unterstützer. Auf der Ebene der politischen Programmatik schrieb er Skanderbegs „epische“ Erfolge – seiner Darstellung zufolge war Albanien die letzte Bastion gegen die Türken – außerdem der Tatsache zu, dass die Bauern des Landes, im Gegensatz zu Bulgarien, Griechenland und Serbien, nicht als Leibeigene in einem Feudalsystem gelebt hätten und daher ihre Freiheit verteidigt hätten, sodass es sich bei Skanderbegs Kämpfen in Wirklichkeit um einen Krieg des gesamten Volkes gehandelt habe (vgl. Quelle 2).
Skanderbeg was great in three different respects and won a place in history as a peasant leader, strategist and crusader: The social class to which he belonged was that of the petty, or rather patriarchal aristocracy, but he identified himself with the Albanian free peasant class, and became their greatest and most typical national leader in their long war on two fronts against the Turkish feudal lords and the Venetian merchant princes. […] The title of Champion of Christendom, given to him by Pope Nicholas V and confirmed by three succeeding Popes, can be left to him safely, as he deserved it, according to Calixtus III, „more than any other Christian Prince with his memorable achievements.“ He stopped Murad II and Mehmed II long enough to make them miss the boat for Rome. His long delaying action, coming at a critical period, did much to save Italy and Europe from the greatest calamity that could have befallen them, Turkish conquest. His share in this highly important service can hardly be overestimated.
Quelle: Entnommen der von Fan Noli selbst angefertigten englischen Übersetzung seiner überarbeiteten Biographie, mit der er in den USA promovierte: Noli, Fan Stylian: George Castrioti Scanderbeg (1405-1468). Diss.phil, Boston University, 1945, 208. Online unter https://hdl.handle.net/2144/7259 (Zugriff am 09.10.2019).
Fan Nolis Charakterisierung Skanderbegs situatiert Albanien somit als primär christliches Land. Skanderbegs sozialen Status und sein Verhältnis zur Bevölkerung stellt Fan Noli so dar, dass eine inhärente Neigung der Albaner zu einer liberalen Demokratie angenommen werden muss.
Ahmet Zogu (1895–1961), der 1925 das Präsidentenamt an sich zog, diktatorisch regierte und sich 1928 zum König krönte, hatte naturgemäß größeres Interesse an den monarchischen Eigenschaften Skanderbegs. Er stilisierte sich schon früh in seiner politischen Karriere zum Enkel Skanderbegs: Genau wie Skanderbeg wollte Zogu derjenige sein, der die Albaner nach Jahrhunderten der Spaltung unter seiner Führung gegen ihre Feinde vereinte. Die zeitweilige Allianz Skanderbegs mit Venedig diente ihm als Vorbild für die Nähe Albaniens zum faschistischen Italien, wobei er die militärischen Konflikte, die es zwischen Skanderbeg und Venedig ebenfalls gab, ignorierte. Mehr als jeder andere Herrscher nutzte Zogu den Skanderbegmythos, um nicht nur ein Herrschaftsmodell, sondern sich selbst als Herrscherpersönlichkeit zu legitimieren, indem er sich in einer imitatio heroica als Erbe, ja geradezu als Reinkarnation Skanderbegs, präsentierte, aktiv gefördert durch die italienische Regierung. Er weigerte sich, seine Krönung zu zelebrieren, da Skanderbegs Helm, der die wahre Krone Albaniens sei, sich in der Wiener Hofburg befand und daher nicht zur Verfügung stand; er ließ sich aber mit diesem Helm porträtieren. Im Zuge des Personenkultes, den er um sich inszenierte, ließ er sich als direkten Nachfahren von Achilles, Alexander dem Großen, Pyrrhos und Skanderbeg darstellen.
Die italienische Besatzungsmacht, die 1939 die Herrschaft über das Land übernahm, stellte ebenfalls Skanderbegs Beziehungen zu italienischen Städten und Fürstentümern heraus, aber nicht als diejenigen eines Kämpfers für die albanische Unabhängigkeit, sondern als die eines Protégés italienischer Mächte, die durch die Geschichte hindurch immer der Garant für die Freiheit und das Wohlergehen Albaniens gewesen seien. 1943 wurden die italienischen Besatzer durch die Deutschen abgelöst, die prompt eine Waffen-SS-Division “Skanderbeg” einrichteten; der Mythos Skanderbeg war zu diesem Zeitpunkt offensichtlich fest etabliert.
Die Kommunisten unter Enver Hoxha (1908–1985) stellten den Nationalheldenstatus Skanderbegs nicht in Frage, mussten sich aber gegenüber der Tatsache positionieren, dass er Adeliger, Feudalherr und Monarch gewesen war. Hoxha erklärte 1947, Skanderbeg sei im Kontext seiner Zeit progressiv gewesen, da er gegen die Türken gekämpft und die Bauern angeführt habe, aber das feudale und monarchische Element seines Wirkens seien regressive Merkmale gewesen, die das albanische Volk erst später in der Geschichte überwunden habe. Andere Elemente von Skanderbegs Biographie wie zum Beispiel seine Allianzen mit Adeligen und die Unterstützung, die er durch den Papst erfuhr, übergingen oder marginalisierten die Kommunisten.
Im Laufe der kommunistischen Herrschaft wich dieser ambivalente Blick auf Skanderbeg einem monolithischen Heldenbild, in dem Skanderbeg als Repräsentant des gesamten albanischen Volkes präsentiert wurde. Er wurde außerdem als Begründer des ersten modernen, souveränen Staates mit einer zentralen Staatsmacht dargestellt und damit als Vorläufer der Volksrepublik Albanien. Auch Hoxhas zunehmende Paranoia spiegelte sich in seinem Blick auf Skanderbeg, der von seinen einheimischen und ausländischen Verbündeten immer wieder verraten worden sei. Gleichzeitig galt Skanderbeg als Beleg für die europäische Identität Albaniens und für die wichtige Rolle des Landes in der europäischen Geschichte. Ab dem Ende der 1960er Jahre, im Kontext der albanischen Kulturrevolution und der Feier zum fünfhundertsten Todestag Skanderbegs 1968, ließ sich eine zunehmende Identifikation von Hoxha mit Skanderbeg beobachten. Hoxha wurde die Aufgabe zugeschrieben, Skanderbegs Werk der Einigung Albaniens zu vollenden. Zum Ende seines Lebens hatte der Personenkult um Hoxha derartige Ausmaße angenommen, dass er – als bisher einzige Person der modernen albanischen Geschichte – als gleichrangig mit Skanderbeg oder sogar höherrangig dargestellt wurde. Dem Skanderbegkult tat dies keinen Abbruch; er fand Eingang in die Schulbücher und seinen Ausdruck in Statuen, Gemälden, Denkmälern, Musikstücken, literarischen Werken, Pseudofolklore sowie der Benennung von Straßen, Schiffen, Schulen und sogar einer Biermarke.
Nach dem Fall des Kommunismus 1991 wurde die Erinnerung an Skanderbeg genutzt, um nach Jahrzehnten des Isolationismus eine Einbindung Albaniens in internationale Bündnisse und die Transformation zu einem demokratischen System zu begründen. Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen diente der Name Skanderbegs verstärkt auch zur Benennung von Unternehmen und Konsumgütern; Heldenverehrung und Trivialisierung liegen hier dicht beieinander.25Vgl. Schmidt-Neke: „Nationalism and national myth“, 1997, 2–6.
Trotz ihrer wechselhaften Deutung war und blieb die Figur Skanderbegs seit der Unabhängigkeit Albaniens ein zentraler Bestandteil der staatlichen Repräsentation und Symbolik, etwa auf Geldscheinen, Briefmarken und Flaggen sowie im öffentlichen Raum. Dies wurde in einer Kontroverse besonders deutlich, die die 2008 ins Albanische übersetzte Skanderbeg-Biographie des Schweizer Historikers Oliver Jens Schmitt auslöste. Ihre Veröffentlichung fiel in eine Zeit, in der die Identität Albaniens erbittert diskutiert wurde. Während eine Fraktion Albanien als europäisches Land betrachtete, dem der Islam lediglich aufoktroyiert worden sei und das trotz der jahrhundertelangen Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich kulturell eindeutig europäisch sei, betrachtete die andere Fraktion die osmanische Herrschaft sowie die Islamisierung positiver, da sie dem Land die Möglichkeit eröffne, eine Brückenfunktion zwischen Christentum und Islam, Orient und Okzident einzunehmen. In diesem Zusammenhang war auch die religiöse Identität Skanderbegs ein sensibles Thema, an das Schmitt rührte, indem er die Hypothese aufstellte, Skanderbeg sei ursprünglich nicht, wie meist angenommen, katholisch, sondern orthodox gewesen und seine zwischenzeitliche Annahme des Islams reihe sich ein in eine Abfolge von Religionswechseln aus Opportunitätsgründen, wie sie für diese Region und Zeit typisch gewesen seien. Skandalträchtig war weiterhin die Tatsache, dass Schmitt für etliche Handlungen Skanderbegs nicht altruistische oder gar nationalistische, sondern persönliche Motive postulierte, auf die Niederlagen und Misserfolge des Heerführers hinwies und zu der Schlussfolgerung kam, dass der Preis für Skanderbegs anhaltende Kriegführung vor allem von der albanischen Landbevölkerung bezahlt worden sei mit dem Resultat einer regelrechten Entvölkerung der von Skanderbeg verteidigten Gebiete.
Schmitts Buch oder zumindest die generelle Entmythologisierung Skanderbegs stießen bei einem Teil der albanischen Intellektuellen und Historiker durchaus auf Zustimmung, unter anderem mit der Begründung, eine kritische Perspektive auf die eigene Geschichte sei überfällig. Auch äußerte ein Kommentator, das Bild eines tollkühnen Kriegshelden wie Skanderbeg tauge nicht für die Moderne; es diene vor allem dazu, die Stimmung gegen Türken und Slawen aufzuheizen. Das Buch rief jedoch auch heftige Ablehnung sowohl in Albanien selbst als auch in Diasporagemeinschaften hervor. Während frühere historische Befunde, die nationalistischen Vorstellungen widersprachen, etwa mit Bezug auf die Abstammung der Albaner, in der albanischen Öffentlichkeit nur ein geringes Echo gefunden hatten, verhielt es sich mit Schmitts Skanderbeg-Biographie anders, was an einer in besonderem Maße affizierenden Wirkung von Heldennarrativen liegen könnte. Kritiker hielten Schmitt unter anderem vor, durch die Diffamierung Skanderbegs den Interessen der Feinde Albaniens, etwa der Türken und Slawen und insbesondere Serbiens, zu dienen. Nicht selten wurde Schmitt als Nicht-Albaner die Legitimation abgesprochen, überhaupt über die Figur Skanderbegs urteilen zu können.26Vgl. Schmidt-Neke: „Skanderbegs Gefangene“, 2010.
In der Frage des Umgangs mit dem Nationalhelden „wirkt hier die Mentalität einer Generation weiter, die ihr Land immer wieder als Objekt von Diplomatie und Kriegführung größerer Mächte wahrnahm und in Skanderbeg das Gegenmodell findet: Albanien als Faktor der Weltpolitik, ein Albanien, das mit den Großmächten auf Augenhöhe verhandelt oder gegen sie kämpft.“27Vgl. Schmidt-Neke: „Skanderbegs Gefangene“, 2010, 283.
Das Fallbeispiel Skanderbegs veranschaulicht damit die Funktionen, die ein Nationalheld einnehmen kann und die ihn für seine Verehrergemeinschaft so unverzichtbar machen: Durch seinen Ruhm und seine Siege verschafft er auch der Nation, die er repräsentiert, Ruhm und Größe. Eine Nation, die über Helden mit internationalem Ansehen verfügt, kann auch selbst Anspruch darauf erheben, international wahrgenommen und respektiert zu werden. Nation und Nationalheld werden im Fall Skanderbegs von breiten Teilen der Öffentlichkeit derartig miteinander identifiziert, dass eine Dekonstruktion des Heldenmythos als Angriff auf die Nation selbst verstanden wird. (Vgl. die Texte von Ismail Kadare und Bamir Topi in den Quellen 3 und 4.)
Die Entmythisierung der Gestalt Gjergj Kastriotis ist einer der Schandflecken der albanischen Nation. Es gibt einige Autoren, die dies in unverschämtester Weise versucht haben. Dieses Problem reicht sehr tief und ist für die albanische Nation von grundlegender Bedeutung. Die Gestalt von Gjergj Kastrioti zu entmythisieren bedeutet, das Konzept der Freiheit anzugreifen.
Man will uns einreden, Gjergj Kastrioti sei eine negative Gestalt der albanischen Geschichte gewesen. Das ist in ihrer ganzen Hässlichkeit eine ganz alte Geschichte. Dazu hat es bereits Thesen gegeben. Die erste dieser Thesen wurde vor rund 200 bis 300 Jahren von unseren Nachbarn aufgestellt. Aber vor ihnen hatten schon die Türken sich in dieser Hinsicht geäußert, weil für sie Gjergj Kastrioti ein Renegat, Verräter und Feind war. Es hat auch Versuche desjenigen Teils des albanischen Volkes gegeben, der den Renegaten zuzuzählen ist, sich dieser These anzuschließen.
Gegen Gjergj Kastrioti zu sein, bedeutet, die Knechtschaft der Freiheit vorzuziehen, und Albanien wäre das erste Land in Europa, das dies täte. Es wäre das erste Land in Europa, das seine Geschichte mit einem großen, hässlichen Fleck belasten würde, der auch in Jahrhunderten nicht getilgt würde. Perverse Menschen mit pseudointellektueller Seele vereinigen sich zu dieser Kampagne.
Gjergj Kastrioti ist die Gestalt, die die Einheit Albaniens mit Europa symbolisiert. Eine so schändliche Kampagne hat es in unserer Geschichte noch nicht gegeben, und wenn wir sie akzeptieren, werden wir die würdeloseste Nation in Europa sein.
Quelle: Ismail Kadare: Çmitizimi i Gjergj Kastriotit, turpi i kombit, Shekulli Blog, 18.11.2008. Online unter http://blog.shekulli.com.al/2008/11/18/cmitizimi-i-figures-se-gjergj-kastriotit-eshte-nje-nga-turpet-e-kombit/, 10.08.2010. In: Schmidt-Neke, Michael: „Skanderbegs Gefangene. Zur Debatte um den albanischen Nationalhelden“. In: Südosteuropa 58.2 (2010), 273–302, hier 286–287.
Vor Jahrhunderten, am 17. Januar 1468, schied der oberste Herr von Albanien, Gjergj Kastrioti Skanderbeg, aus dem Leben, um die lebendigste Persönlichkeit der gesamten Geschichte der Albaner zu werden. Fan Noli [1882–1965], der sich sein ganzes Leben lang ständig mit ihm auseinandersetzte, bestätigte dies kurz vor seinem Tode: „Manchmal frage ich mich, ob es heute überhaupt einen Menschen geben kann, der so lebendig ist wie Skanderbeg.“ Er war Wirklichkeit, Modell und Symbiose einer heiligen Sache, des Freiheitskampfes gegen die Knechtschaft. Er war der Führer eines gerechten und heldenhaften Verteidigungskampfes und ein Mann, der einen Staat schuf. Die Wirkungen dieser Leistung werden nie verblassen. Sie waren der Grundstock für die Nationale Wiedergeburt bis zum November 1912, im erhabenen Streben nach einem unabhängigen albanischen Staat, dem Kern der nationalen Identität und des zeitgenössischen Bewusstseins. […]
Für ihn war nicht sein eigenes Fürstentum wichtig, sondern die Vereinigung der Arbëria. Sein Heldenkampf ist Widerspiegelung des Wollens der Albaner und nicht seiner persönlichen Interessen. Der 25-jährige Widerstand strahlte noch jahrhundertelang nach im Unterbewusstsein des Volkes, als Folklore, als ständige Erzählung und nährte wieder und wieder neue Aufstände. Der Kampf für Kosovos Freiheit und Unabhängigkeit wurde auch vom Andenken an den Helden inspiriert. So mancher beneidet uns um unseren Nationalhelden, um seine Taten, seinen Ruhm, die Beziehungen, die er zwischen seiner Nation und dem politischen und militärischen Europa seiner Zeit unterhielt, und versucht heute, ihn in neuem Licht darzustellen. […] Der eine oder andere Knechtsgeist, der mit rückläufigem Mut ausgestattet ist, versucht heute, die Rolle Skanderbegs in unserer Geschichte oder in der Geschichte der europäischen Zivilisation zu verfremden. Das ist ein armseliger Versuch, weil die Geschichte keine Lektionen entgegennimmt, sondern sie erteilt. […]
Heute sehen die Albaner im gesamten Balkanraum in Skanderbeg und seiner Arbëria ein großes Modell der Integration in die Völkerfamilie des vereinigten Europa. Dank seiner ist unsere Geschichte in jener Periode ein ruhmreicher Teil der Geschichte Europas, die Skanderbeg sicher als eine herausragende Persönlichkeit zu würdigen hat. Heute schließt Albanien sich der NATO an und unternimmt wichtige Schritte in Richtung auf die EU, und in diesen Taten sehe ich eine Projektion der ältesten Wünsche der Albaner, in Frieden, Sicherheit und Freiheit innerhalb ihrer natürlichen Familie zu leben, die Europa heißt, der Familie, deren Verteidiger Gjergj Kastrioti Skanderbeg war.
Quelle: Bamir Topi: Skënderbeu dhe mjerimi i atyre që e sulmojnë, Shqip, 18.01.2009. Online unter http://www.gazeta-shqip.com/artikull.php?id=57140, 10.08.2010. In: Schmidt-Neke, Michael: „Skanderbegs Gefangene. Zur Debatte um den albanischen Nationalhelden“. In: Südosteuropa 58.2 (2010), 273–302, hier 293–294.
6. Einzelnachweise
- 1Vgl. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London 2006: Verso.
- 2Vgl. Langewiesche, Dieter: „Vom Scheitern bürgerlicher Nationalhelden. Ludwig Uhland und Friedrich Ludwig Jahn“. In: Historische Zeitschrift 278.1 (2004), 375–398.
- 3Vgl. Anderson: Imagined Communities, 2006, 6.
- 4Langewiesche: „Vom Scheitern bürgerlicher Nationalhelden“, 2004, 376.
- 5Vgl. Langewiesche: „Vom Scheitern bürgerlicher Nationalhelden“, 2004, 375.
- 6Vgl. Todarova, Maria: Bones of Contention. The Living Archive of Vasil Levski and the Making of Bulgaria’s National Hero. Budapest 2009: Central European University Press.
- 7Vgl. Hutchins, Rachel D.: „Heroes and the renegotiation of national identity in American history textbooks: representations of George Washington and Abraham Lincoln, 1982–2003“. In: Nations and Nationalism 17.3 (2011), 649–668; Ranger, Terence: „Nationalist Historiography, Patriotic History and the History of the Nation: the Struggle over the Past in Zimbabwe“. In: Journal of Southern African Studies 30.2 (2004), 215–234; Shimony, Tali Tadmor: „The Pantheon of national heroprototypes in educational texts. Understanding curriculum as a narrative of national heroism“. In: Jewish History 17 (2003), 309–332.
- 8Anderson: Imagined Communities, 2006, 37-46.
- 9Fahmy, Ziad: Ordinary Egyptians. Creating the Egyptian Nation through Popular Culture. Stanford University Press 2011: Stanford.
- 10Vgl. De Capitani, François: „Wilhelm Tell“. In: Historisches Lexikon der Schweiz, 17. Dezember 2013. Online unter: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017475/2013-12-17/ (Zugriff am 09.10.2019).
- 11Vgl. Todarova: Bones of Contention, 2009.
- 12Nipperdey, Thomas: „Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert“. In: Historische Zeitschrift 206.1 (1968), 529–585.
- 13Vgl. Barnard, Timothy P.: „Local Heroes and National Consciousness. The Politics of Historiography in Riau“. In: Bijdragen tot de Taal-, Land- en Volkenkunde 153.4 (1997), 509–526; Schreiner, Klaus: „The Making of National Heroes. Guided Democracy to New Order“. In: Schulte Nordholt, Henk (Hg.): Outward Appearance. Dressing State and Society in Indonesia. Leiden 1997: KITLV Press, 259–290; Schreiner, Klaus H.: „‚National Ancestors‘. The Ritual Construction of Nationhood“. In: Chambert-Loir, Henri/ Reid, Anthony (Hg.): The Potent Dead. Ancestors, Saints and Heroes in Contemporary Indonesia. Crows Nest und Honolulu 2002: Allen & Unwin / University of Hawai’i Press, 183–204.
- 14Vgl. Renan, Ernest: Qu’est-ce qu’une nation? Paris 1991: Bordas.
- 15Vgl. Todarova: Bones of Contention, 2009, 477–501; vgl. auch Roces: „Rizal and the martyrs“, 2009.
- 16Vgl. Valenzuale, Maria Theresa: „Constructing National Heroes. Postcolonial Philippine and Cuban Biographies of José Rizal and José Martí“. In: Biography 37.4 (2014), 745–761.
- 17Vgl. Todarova: Bones of Contention, 2009, 191–201.
- 18Vgl. Shimony: „The Pantheon“, 2003, 317.
- 19Vgl. Todarova: Bones of Contention, 2009, 455.
- 20Vgl. Anderson: Imagined Communities, 2006, 11, Fn. 4; Anderson, Benedict: „Indonesian Nationalism Today and in the Future“. In: Indonesia 67 (1999), 5.
- 21Vgl. Schmidt-Neke, Michael: „Nationalism and national myth. Skanderbeg and the twentieth-century Albanian regimes“. In: The European Legacy. Toward New Paradigms 2.1 (1997), 1–7, hier 1; Schmidt-Neke, Michael: „Skanderbegs Gefangene. Zur Debatte um den albanischen Nationalhelden“. In: Südosteuropa 58.2 (2010), 273–302, hier 273–274.
- 22Vgl. Elsie, Robert: Historical Dictionary of Albania. Lanham 2010: Scarecrow, 444; Schmidt-Neke: „Nationalism and national myth“, 1997, 2.
- 23Vgl. Schmidt-Neke: „Nationalism and national myth“, 1997, 2.
- 24Vgl. Schmidt-Neke: „Skanderbegs Gefangene“, 2010.
- 25Vgl. Schmidt-Neke: „Nationalism and national myth“, 1997, 2–6.
- 26Vgl. Schmidt-Neke: „Skanderbegs Gefangene“, 2010.
- 27Vgl. Schmidt-Neke: „Skanderbegs Gefangene“, 2010, 283.
7. Ausgewählte Literatur
- Langewiesche, Dieter: „Vom Scheitern bürgerlicher Nationalhelden. Ludwig Uhland und Friedrich Ludwig Jahn“. In: Historische Zeitschrift 278.1 (2004), 375–398.
- Schreiner, Klaus: „The Making of National Heroes. Guided Democracy to New Order“. In: Schulte Nordholt, Henk (Hg.): Outward Appearance. Dressing State and Society in Indonesia. Leiden 1997: KITLV Press, 259–290.
- Shimony, Tali Tadmor: „The Pantheon of national heroprototypes in educational texts. Understanding curriculum as a narrative of national heroism“. In: Jewish History 17 (2003), 309–332.
- Todarova, Maria: Bones of Contention. The Living Archive of Vasil Levski and the Making of Bulgaria’s National Hero. Budapest 2009: Central European University Press.
- Valenzuela, Maria Theresa: „Constructing National Heroes. Postcolonial Philippine and Cuban Biographies of José Rizal and José Martí“. In: Biography 37.4 (2014), 745–761.
8. Abbildungsnachweise
- 1National Heroes Acre, Harare, SimbabweQuelle: User:ilf_ / FlickrLizenz: Creative Commons BY-SA 2.0
- 2& Teaserbild : Reiterstandbild von Skanderbeg in TiranaLizenz: Creative Commons BY-SA 3.0