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Tragischer Held

  • Version 1.0
  • publiziert am 12. April 2024

1. Einleitung

Als „tragischer Held“ werden im ursprünglichen Sinne diejenigen Figuren einer ⟶Tragödie bezeichnet, die als Handlungsträger im Verlauf des Stücks physisch (mitunter auch psychisch) erhebliches Unglück erleben, oder zumindest eine diesbezügliche Gefährdung (tragisches Potenzial) erkennen lassen. Die Fragen, was genau tragische Helden und ihre Tragik auszeichnet und ob synchron oder diachron überhaupt generalisierende Aussagen über tragisches Heldentum möglich sind, gehören zu den umstrittensten Themen der Tragödienforschung. In der Antike haben die Dichter selbst – anders als etwa in der deutschen Klassik – keine theoretischen Reflexionen über diese Themen hinterlassen. 

2. Antike

2.1. Die attische Tragödie (Aischylos, Sophokles, Euripides)

Moderne Kolloquialismen wie „tragischer Unfall“ oder „tragischer Schicksalsschlag“ legen die Vermutung nahe, dass Tragik in einem gänzlich unerwarteten und/oder unverschuldeten Unglück besteht, das einen Menschen trifft, ohne in einer Verbindung mit seiner individuellen charakterlichen Prägung und/oder vorgängigen Lebensentscheidungen zu stehen. Dieses Tragikverständnis entspricht jedoch nicht der Gefährdung des ‚ursprünglichen‘ tragischen Helden der attischen Tragödie. Dessen Konflikt entfaltet sich in den meisten Fällen in einem komplexen Spannungsfeld zwischen Schuld und Unschuld, Wissen und Nichtwissen, Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit des Entscheidens, zwischen Eigenständigkeit menschlichen Handelns und göttlicher Einflussnahme.

Die tragischen Helden der attischen Tragödie sind bis auf wenige Ausnahmen Gestalten des Mythos.1Ausnahmen bilden Tragödien wie die Aischyleischen Perser oder Phrynichos’ nicht überlieferte Eroberung Milets, die beide historische Stoffe behandelten. Die Überlieferung der Titel nicht erhaltener Tragödien zeigt, dass der Mangel an historischen Dramen bei den drei Tragikern repräsentativ für die allgemeine Tendenz der Stoffauswahl ist. Aristoteles zufolge wurden des Weiteren auch Tragödien aufgeführt, die bezüglich des Figureninventars und der Handlung rein fiktional waren, also weder ein historisches noch ein mythisches Vorbild hatten (s. Arist. Po. 1451b19-21 für das Beispiel von Agathons Antheus). Sie stammen aus einer gehobenen sozialen Schicht, weisen aber bezogen auf Lebensalter, Geschlecht und soziale Rolle eine große Spannbreite auf.

Dem Theaterzuschauer der klassischen Zeit waren Tragödienfiguren nicht nur als literarische Gestalten vertraut; sie waren oftmals auch Subjekte der ⟶Verehrung im Zusammenhang mit Heroenkulten, in deren Rahmen sie als bedeutende historische Persönlichkeiten aus ferner Vergangenheit verstanden wurden. So existierten in Athen zum Beispiel Kulte für die Heroen Ödipus und Aias. Das Publikum durfte sich mit den Theaterfiguren als seinen gemeinsamen Vorfahren also auch persönlich verbunden fühlen. Die eminente gesellschaftlich-kulturelle Bedeutung solcher Figuren legitimiert die gebräuchliche Bezeichnung „tragische Helden“, wenngleich die dramatis personae – im Gegensatz zu den Handlungsträgern des ⟶Homerischen Epos, mit denen sie oftmals identisch sind – in den Stücken selbst üblicherweise nicht als „Helden“/„Heroen“ (ἥρωες) bezeichnet werden.2Der Terminus „tragischer Held“ taucht erstmals bei italienischen Renaissance-Philologen auf. Vgl. Seidensticker, Bernd: „Die Zerstörung des Helden bei Euripides“. In: Seidensticker, Bernd: Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen. Studien zum antiken Drama. Hg. v. Jens Holzhausen. München u. a. 2005, 193-216, 195.

Die ⟶mediale Vermittlung tragischen Heldentums erfolgt ursprünglich beinahe ausschließlich im Rahmen der einmal jährlich stattfindenden Theateraufführungen der athenischen Theaterfestspiele (insbesondere der Städtischen Dionysien).3Vgl. zu diesen Pickard-Cambridge, Arthur: The Dramatic Festivals of Athens. Oxford 21968: Oxford University Press, 57-125. Auch bei den Lenäen kamen Tragödien zur Aufführung. Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass in intellektuellen Kreisen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts Leseexemplare von Tragödien zirkulierten. Die Tragödiendichter konkurrierten bei den Dionysien vor dem Publikum und einer Laienjury mit einer Trilogie von tragischen Stücken um die Auszeichnung ihrer dichterischen Leistung.4Vgl. zur Konstitution der Theaterjury und zum Prozess der Stimmabgabe Blume, Horst-Dieter: Einführung in das antike Theaterwesen. Darmstadt 1978: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 40-43. Die attische Tragödie ist in ihrer Ausgangsform also ein lediglich einmal aufgeführtes,5Erst ab 386 v. Chr. wurden regelmäßig auch ältere Stücke bei den Festspielen aufgeführt. Zuvor bestand eine diesbezügliche Ausnahmeregelung lediglich für die Aischyleische Tragödie. Vgl. Pickard-Cambridge: The Dramatic Festivals of Athens, 1968, 99-100. in kompetitiver Auseinandersetzung inszeniertes massenmediales6Den Charakter der Tragödie als eines auf „Massenwirkung“ angelegten „Massenmediums“ betont z. B. Willms, Lothar: Transgression, Tragik und Metatheater. Versuch einer Neuinterpretation des antiken Dramas. Tübingen 2014: Narr Franke Attempto, 1. Bühnenstück für das (überwiegend) athenische Publikum.

Die Tragödien sind ebenso wie die Dionysosfestspiele vielschichtige Konglomerate, in denen religiös-kultische, (tages-)politische, soziokulturelle, künstlerische sowie kosmologisch-theologische Aspekte aufeinandertreffen und in verdichteter Form aufbereitet werden. Angesichts dieser Vielschichtigkeit zählt die Frage nach der Funktion der Tragödie und der dargestellten Erlebnisse ihrer ⟶Helden seit jeher zu den besonders intensiv diskutierten Forschungsproblemen.

Allgemeinverbindliche Aussagen über das Heldenbild der attischen Tragödie lassen sich zumindest näherungsweise treffen: Die Forschung ist zu der Erkenntnis gelangt, dass insbesondere der Sophokleische Held mit einigen wiederkehrenden Charakteristika ausgestattet ist und in vielen Stücken auf strukturell ähnliche Problemkonstellationen trifft.7Vgl. zur Charakteristik des Sophokleischen Helden insbesondere Knox, Bernard M. W.: The Heroic Temper. Studies in Sophoclean Tragedy. Berkeley u. a. 1964: University of California Press; zu den nachfolgend genannten Eigenschaften des Sophokleischen Helden ebd. 9-27. Prägnant zur Dialektik heroischer Größe und der mit ihr verbundenen Gefährdung Winnington-Ingram, Reginald P.: Sophocles. An Interpretation. Cambridge 1980: Cambridge University Press, 9: „Now, if one thing is certain, one generalization valid, it is that the Sophoclean hero is not himself sophron in any ordinary sense of the word. A man or a woman of excess, an extremist, obstinate, inaccessible to argument, he refuses to compromise with the conditions of human life.“; ebd. 317: „ […] The heroes have a dimension of greatness beyond the measure of normal humanity: they go on where ordinary men would stop. It is a kind of excess and excess is dangerous“. Am schwersten dürfte die Suche nach allgemeinen Charakteristika tragischer Helden in Euripides’ Stücken fallen (man vergleiche etwa die höchst spezifischen Ausgangskonflikte und Charakterzüge von Ion, Hippolytos, Medea und Andromache). So ist der Sophokleische Held in der Regel sozial isoliert. Er tritt – zumeist aus einer unterlegenen Position – kompromisslos und unnachgiebig für ein grundsätzlich edles Interesse ein (Antigone für das Recht auf die Bestattung ihres Bruders und die von ihr als maßgeblich betrachteten ungeschriebenen göttlichen Gesetze; Elektra für die Gerechtigkeit gegenüber ihrem ermordeten Vater). Der Sophokleische Held lässt sich nicht belehren. Er möchte sich nicht mäßigen und er ist nicht willens, sich menschlichen oder göttlichen Autoritäten zu beugen. In Anbetracht dieser Typik eignet solchen Figuren etwas Ambivalentes: Die Konsequenz und Unbeugsamkeit der Sophokleischen Helden, die in manchen Fällen bis zur Selbstzerstörung an ihren Überzeugungen festhalten, veranlassen viele Rezipienten zur ⟶Bewunderung. Die skizzierten charakterlichen Eigenheiten tragen allerdings auch Züge von starrsinniger Verhärtung, die eine Vermittlung mit anderen – möglicherweise ebenfalls berechtigten – Interessen und ausgewogeneren Positionen erheblich erschwert; auf diese Weise kann der Eindruck einer problematischen Einseitigkeit der Überzeugungen Sophokleischer Helden entstehen.

Auch die tragischen Helden der Aischyleischen und Euripideischen Tragödie sind in ihrem Entscheiden und ⟶Handeln in vielen Fällen durch gewisse Einseitigkeiten geprägt (wiederum ohne dass dies ihrer grundsätzlich edlen Gesinnung einen Abbruch tut): So entscheidet sich der Aischyleische Agamemnon in der Vorgeschichte des Stücks vor dem Hintergrund eines massiven Interessenkonflikts dafür, seine Tochter Iphigenie zugunsten politischer Belange zu opfern.8Die Konfliktsituation ist in diesem Fall freilich in besonderer Weise zugespitzt. Falls Agamemnon sich gegen die Opferung Iphigenies entschieden hätte, wäre ein unter Aufbietung enormer Ressourcen geplantes gesamtgriechisches Unternehmen gescheitert. Agamemnon bemerkt daher nicht zu Unrecht, dass beide Handlungsalternativen mit Übeln verbunden sind: A. Ag. 211. Die Formel für seine Tragik liegt dennoch nicht zwangsläufig in der Notwendigkeit, zwischen zwei Handlungsalternativen wählen zu müssen, die gleichermaßen problembehaftet sind. Das Problem könnte auch darin bestehen, dass Agamemnon das größere von zwei Übeln wählt. Recht anders und doch strukturell vergleichbar ist die Haltung des Protagonisten im Euripideischen Hippolytos geartet: Hippolytos widmet sich ganz der keuschen Verehrung der jungfräulichen Göttin Artemis – nicht ohne den von ihm verschmähten Lebensbereich der erotischen Liebe pauschal abzuwerten; auf diese Weise erregt er mit tödlichen Konsequenzen den Zorn der Liebesgöttin Aphrodite.9Der Konflikt wird in gebündelter Form in den ersten Äußerungen von Aphrodite und Hippolytos entfaltet. Vgl. E. Hipp. 21-22 zu Aphrodites Kritik an Hippolytos’ Verfehlung und zu ihren Racheplänen; Hipp. 79-81 für Hippolytos’ Rekurs auf die eigene Besonnenheit und die Schlechtigkeit der unkeuschen Menschen.

Nicht nur die charakterlichen ⟶Qualitäten des tragischen Helden, sondern auch die Eigenheiten der ihn umgebenden Welt, zumal die in ihr waltenden göttlichen Kräfte, werden in der Forschung kontrovers diskutiert. Manche Interpreten verstehen die Götter der Tragödie von Aischylos bis Euripides10Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die drei Tragiker oftmals auch unter entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkten betrachtet werden (von Aischylos als dem traditionellen Denken am stärksten verhafteter Dichter, über Sophokles, der die Blütezeit Athens, aber auch die Gefährdung durch den Pelopponesischen Krieg erlebt hat, hin zu Euripides, der bereits stark von sophistischem Denken beeinflusst ist). Der Problemkomplex kann allerdings an dieser Stelle nicht aufgearbeitet werden. als indifferente, nicht selten auch feindlich gesinnte Mächte, die den Helden ohne triftige Rechtfertigung oder aus banalen Gründen in den Untergang treiben – mitunter, indem sie ihn gezielt verblenden,11Der diesbezüglich einschlägige Verblendungsbegriff (ἄτη) taucht bereits im Epos und in der frühgriechischen Dichtung auf. Allerdings bezeichnet er schon dort eher einen heterogenen Vorstellungskomplex als ein einheitliches Konzept. Dies zeigt prägnant ein Definitionsversuch bei Stallmach, Josef: Ate. Meisenheim am Glan 1968: Hain, 102: „Ate ist das von dem Gott willkürlich oder als Strafe verhängte, in der daimonischen Konstellation des Geschlechtes oder aus der immanenten Dike des Weltgeschehens sich ergebende Unheil und dies in seiner Verwirklichung durch das menschliche Handeln, das, durch Verblendung, Betörung oder Frevelmut fehlgehend, in den im Laufe der Dinge sich dann ergebenden schlimmen Folgen sich selbst am Handelnden rächt“. Die diffizile Verschränkung von menschlicher Schuld und göttlicher Einflussnahme zeigt sich in Sophokles’ Aias, wo Odysseus den ‚mit schlimmer Ate zusammengejochten‘ Helden bedauert (Aj. 121-123). Aias wird in der Tat von Athene mit Wahnsinn geschlagen – aber erst, nachdem er wegen einer persönlichen Kränkung beim Entscheid des Waffengerichts einen nächtlichen Anschlag auf die griechischen Heerführer in die Wege geleitet hat. oder in schlechterdings undurchschaubare Entscheidungssituationen führen. Die Tragiker brächten demnach in ihren Stücken und im Scheitern des Helden ein Lebensgefühl der „Ausgesetztheit“ menschlicher Existenz zum Ausdruck.12Vgl. exemplarisch bereits Wilamowitz, Ulrich von: „Excurse zum Oedipus des Sophokles“. In: Hermes 34 (1899), 55-80, 59: „ […] dass das Menschenschicksal unberechenbar und jeder göttlichen Heimsuchung ausgesetzt ist […]“; sodann Schadewaldt, Wolfgang: „Der ‚König Ödipus‘ des Sophokles in neuer Deutung“. In: Schweizer Monatshefte 36 (1956), 21-31, 30-31: „Was das Ödipus-Drama an einem Beispiel von extremer Schärfe herausstellt, das ist […] jene ausgesetzte, in nichts geschützte Lage, in welcher der Mensch nun einmal Mensch ist“; Manuwald, Bernd: König Ödipus, herausgegeben, übersetzt und kommentiert. Berlin u. a. 2018: Walter de Gruyter, 45: „ […] ein Beispiel […] für die Nichtigkeit menschlichen Lebens […], für die Ausgesetztheit und Bedrohtheit des menschlichen Daseins.“ Der tragische Held wäre somit Opfer eines göttlich gelenkten Schicksals, bzw. erhielte einen von Geburt an feststehenden, in vielen Fällen schwer erträglichen „Lebensanteil“ (μοῖρα/αἶσα) – eine Vorstellung, die bereits im Homerischen Epos häufiger thematisiert wird. Von einem als anachronistisch empfundenen stoischen Schicksalsbegriff wird diese Variante eines theonomen Determinismus insofern abgegrenzt, als das Handeln des tragischen Helden nicht von Anfang bis Ende in allen einzelnen Handlungsgliedern vorherbestimmt sei. Vielmehr komme es an einem fixen Endpunkt des Handelns zu einer „spontane[n] Entfaltung des Dämonischen“, das wirksam werde, ohne das Faktum menschlicher Freiheit und Verantwortlichkeit aufzulösen.13Vgl. dazu mit weiteren Literaturhinweisen Lurje, Michael: Die Suche nach der Schuld. Sophokles’ Oedipus Rex, Aristoteles’ Poetik und das Tragödienverständnis der Neuzeit. München u. a. 2004: K. G. Saur, 245-246.

Die gegenläufige Ansicht lautet, dass die Götter den Menschen grundsätzlich wohlwollend gegenüberstehen und ihm – mittels tragödienspezifischer Äußerungsformen (Orakel, Sehersprüche), die freilich einer angemessenen Interpretationshaltung bedürfen – in entscheidenden Lebenssituationen Warnungen oder Hilfen übermitteln.

Zwei weitere Besonderheiten zur Charakteristik des ‚ursprünglichen‘ tragischen Helden verdienen es, erwähnt zu werden: Erstens gibt es nicht in jeder Tragödie einen eindeutig zu identifizierenden tragischen Helden, denn gelegentlich stürzen mehrere handlungstragende Figuren ins Unglück (Antigone und Kreon in der Antigone, Deianeira und Herakles in den Trachinierinnen). Zweitens stürzt der Protagonist in einer signifikanten Zahl von Tragödien überhaupt nicht in Unglück, sondern lässt lediglich eine diesbezügliche Gefährdung erkennen, deren Aktualisierung in manchen Fällen durch göttliches Eingreifen, zumeist in der Form eines deus ex machina, verhindert wird (Beispiel bei Aischylos: Orest in den Choephoren und Eumeniden; Beispiele bei Sophokles: Philoktet im eponymen Stück, Ödipus im Ödipus auf Kolonos; Beispiele bei Euripides: Iphigenie in Iphigenie bei den Taurern, Alkestis, Medea im eponymen Stück[?]14Medea besitzt, wie die Dramaturgie des finalen Auftritts zeigt, (spätestens) am Schluss des Stücks einige übermenschliche, möglicherweise auch durch die grausame Tat begründete entmenschlichte Züge; diese Entmenschlichung markiert Euripides aber nicht deutlich als Scheitern; vielmehr scheint Medea, wie verschiedene kompositorische Mittel der Schlussszene nahelegen (räumliche Annäherung an den üblicherweise dem deus ex machina vorbehaltenen Bühnenraum; Fähigkeit zur Prophetie) dämonisch-göttliche Züge zu besitzen und durch ihre übermenschliche Natur den katastrophalen psychischen Konsequenzen des Verwandtenmordes entzogen zu sein, die z. B. Orest und Elektra in Euripides’ Elektra erleben.). Die Tragiker rechnen also offenbar damit, dass die Tragödie ihre spezifische Wirkung auch dann entfalten kann, wenn ein Umschwung ins Unglück ausbleibt.15Vgl. zur tragödientheoretischen Behandlung dieses Aspekts Lefèvre, Eckard: Die Unfähigkeit, sich zu erkennen. Sophokles’ Tragödien. Leiden u. a. 2001: Brill, 169-170, Anm. 144.

2.2. Aristoteles

Der Ausgangspunkt der tragödientheoretischen Diskussion um die Beschaffenheit des tragischen Helden und das Wesen seiner Tragik findet sich im 13. Kapitel der Aristotelischen Poetik; Aristoteles’ Schrift ist freilich bereits gut ein Jahrhundert nach der Blütezeit der attischen Tragödie entstanden. In einer idealen Tragödie sollte Aristoteles’ Ausführungen zufolge ein „mittlerer Charakter“ (μεταξύ), der weder charakterlich makellos noch charakterlich verdorben ist, einen Umschwung vom Glück ins Unglück erleben (Po. 1453a7-10). Tragik entsteht nach seiner Ansicht also durch die Kombination einer spezifischen Handlungsstruktur und eines bestimmten Charaktertypus. Aristoteles’ Überlegungen zufolge verfügt der tragische Held gegenüber dem Durchschnittsmenschen zwar über exzeptionelle charakterliche Qualitäten (Po. 1448a17-18), die Anlass zur Bewunderung geben können. Einen mittleren Charakter zu haben bedeutet aber auch, nicht vollkommen tugendhaft zu sein.

Der Umschwung ins Unglück ereignet sich durch einen Fehler / eine Verfehlung (Hamartie, gr. ἁμαρτία) des Helden (Po. 1453a9-10. 15-16). Um die Frage, wie genau Aristoteles das Konzept des mittleren Charakters und seines Fehlers / seiner Verfehlung versteht (und inwiefern Aristoteles’ normative Überlegungen zur Idealtragödie auf die überlieferten Tragödien übertragbar bzw. aus diesen gewonnen sind), rankt sich eine inzwischen uferlose Forschungsdiskussion, die bis mindestens in die Renaissance zurückreicht.16Einen instruktiven, streckenweise polemisch stark zugespitzten Überblick am Beispiel der Interpretationsgeschichte des Sophokleischen König Ödipus gibt Lurje, Michael: Die Suche nach der Schuld, 2004; vgl. auch Kappl, Brigitte: Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento. Berlin u. a. 2006: De Gruyter. Handelt es sich bei der Hamartie des tragischen Helden um eine moralisch indifferente ‚Fehlkalkulation‘, oder hat die Fehlhandlung ihren Ursprung in einem (geringfügigen) charakterlichen Defizit des Helden? Kommt der tragische Held nach Aristoteles’ Ansicht also ohne jegliche subjektive Verschuldung oder durch eine ethisch zu verantwortende Fehlhandlung zu Fall? Forschungsgeschichtlich hat im 20. Jahrhundert unter dem Einfluss der wegweisenden Arbeiten von U. von Wilamowitz-Moellendorff, E. R. Dodds, W. Schadewaldt und weiteren Interpreten lange Zeit die erste Ansicht dominiert. Seit den 1980er/1990er Jahren wird in der deutschsprachigen Forschung allerdings (wieder) vermehrt die Interpretation vertreten, der zufolge ein menschlich verstehbarer, in außertragischen Situationen meist ohne gravierende Konsequenzen bleibender Charakterfehler als Ursprung der Hamartie anzunehmen ist. Diese im deutschsprachigen Raum von A. Schmitt und E. Lefèvre zu neuer Geltung verholfene Deutung ist vielfach auf Zustimmung, aber auch auf entschiedenen Widerstand gestoßen.17Vgl. wiederum Lurje, Michael: Die Suche nach der Schuld, 2004, der für eine Rückkehr zu den Forschungsansätzen von Wilamowitz, Dodds, Schadewaldt und anderen votiert. Eine abschließende Klärung der Debatte ist nicht abzusehen.

Um das Problem am meistdiskutierten Beispiel ­– dem Sophokleischen König Ödipus – zu exemplifizieren: Ist Ödipus ohne jegliche subjektive Schuld in Vatermord und Mutterinzest involviert worden, oder wurzeln diese Vergehen in bestimmten problematischen Charakterzügen? Als vermeintlicher Sohn des korinthischen Königs Polybos konnte Ödipus prima facie kaum davon ausgehen, dass ein Reisender, den er fern der Heimat im Zuge einer Auseinandersetzung erschlägt, in Wirklichkeit sein Vater ist; ebenso wenig hatte er prima facie Grund zu der Annahme, dass die später geehelichte Königin von Theben, Iokaste, seine Mutter ist. Andererseits gab es für Ödipus angesichts expliziter Hinweise durchaus Grund, an seiner eigenen Identität (und demnach auch an der Identität seiner vermeintlichen Eltern) zu zweifeln.18Vgl. S. OT 779-780 für Ödipus’ Bericht über die Bemerkung eines Betrunkenen zu seinem Adoptivstatus. Für den Vatermord hat man im Rahmen der moralischen Deutung die innerdramatisch mehrfach durchschimmernde Neigung des Herrschers zum Jähzorn (ὀργή) verantwortlich gemacht – dieser kann freilich nicht auch für den Mutterinzest ursächlich sein.

Noch komplexer wird die Hamartie-Problematik wiederum durch die Frage nach der Funktion des in der Aristotelischen Poetik gar nicht berücksichtigten, aber in allen Tragödien stets (mehr oder weniger stark) präsenten göttlichen Rahmens der attischen Tragödie: Die Götter greifen wie bereits erwähnt vielfach (durch Orakel- oder Sehersprüche, durch Prolog-19Bei den Euripideischen Prologgöttern (z. B. Alkestis, Hippolytos, Bakchen) finden jedoch (im Gegensatz) zur Funktion Athenes im Sophokleischen Aias keine Eingriffe in die Handlung statt, sondern die Götter exponieren das nachfolgende Geschehen und deuten es proleptisch. Vgl. zum Themenkomplex auch Erbse, Hartmut: Studien zum Prolog der euripideischen Tragödie. Berlin u. a. 1984: De Gruyter. und Binnenauftritte oder als dei ex machina) in die Tragödienhandlung ein. Sie sind auf diese Weise mitursächlich für den Verlauf des Geschehens und lassen ein präzises Vorwissen der Ereignisse erkennen.


2.3. Rezeptionsästhetische Wirkung tragischer Helden und ihres Scheiterns in der attischen Tragödie gemäß Aristoteles und in modernen Interpretationen

Auch in diesem Punkt ist die Aristotelische Tragödientheorie der obligatorische Ausgangspunkt. In der Tragödiendefinition der Poetik nennt Aristoteles als rezeptionsästhetisches Ziel des tragischen Schauspiels eine Reinigung (Katharsis, gr. κάθαρσις) bestimmter Affekte (παθήματα) des Zuschauers durch Furcht und Mitleid.20Vgl. Arist. Po. 1449b24-28. Analog zu und eng verbunden mit der Hamartie-Debatte hat sich auch in diesem Punkt eine umfangreiche Forschungsdiskussion hinsichtlich der Natur dieser Reinigung entwickelt. Besonders umstritten ist, welchen Effekt die Katharsis nach Aristoteles’ Ansicht hat: Befreit sie die Seele von den thematisierten Affekten, oder kultiviert sie die Affekte und bringt sie (im Sinne der Aristotelischen Metriopathielehre) auf das richtige Maß? Beide Lesarten sind – abhängig davon, ob man den in der Tragödiendefinition gebrauchten Genitiv παθημάτων als genitivus separativus oder obiectivus versteht – grammatisch möglich und für beide bietet das corpus Aristotelicum (an unterschiedlichen Stellen) inhaltliche Anknüpfungspunkte.21Eine kathartische Befreiung von Affekten wird etwa in der Aristotelischen Politik behandelt (s. dazu besonders Pol. 1341a9-1342b34). In den Ethiken nimmt dagegen in der Frage nach dem angemessenen Umgang mit Affekten bekanntermaßen die Metriopathielehre eine Schlüsselrolle ein.

Ausgehend von den ambivalenten Zügen der tragischen Helden der attischen Tragödie und den divergierenden Positionen in der Hamartie-Debatte lassen sich in der Forschungsdiskussion sowohl das entschiedene Bestreben um eine ⟶Heroisierung als auch das Bestreben um eine ⟶Deheroisierung tragischer Figuren beobachten. Winnington-Ingram spricht mit Blick auf die Parteiung der Debatte pointiert von einer Auseinandersetzung zwischen „Heldenverehrern“ (Hero-Worshippers), und „Pietisten“ (Pietists).22Vgl. für die Unterscheidung und ihre Ursprünge Winnington-Ingram: Sophocles, 1980, 9, inkl. Anm. 16. Die beiden Interpretationslinien gelangen zu bisweilen höchst disparaten Ansichten über das Wesen tragischen Heldentums. Während Heldenverehrer Bewunderung für die charakterliche Exzellenz der tragischen Figuren empfinden, problematisieren Pietisten verstärkt ⟶transgressive, bisweilen hybride Tendenzen solcher Individuen. So hält C. Whitman, dessen Arbeit ein Musterbeispiel für das Paradigma der Heldenverehrung ist, den (Sophokleischen) tragischen Helden für einen Träger vollkommener Tugend (ἀρετή), der „zu groß für die Welt“ ist.23Vgl. Whitman, Cedric: Sophocles. A Study of Heroic Humanism. Cambridge Massachusetts 1951: Harvard University Press, 251. Der tragische Held ist nach Whitmans Ansicht eine Persönlichkeit, die nicht bereit ist ihre eigenen (überlegenen) ethischen, gesellschaftlichen, religiösen Überzeugungen den etablierten (überkommenen, rückständigen) Ansichten seiner Mitmenschen anzupassen oder gar unterzuordnen. Das leidträchtige, bisweilen bis zum ⟶Tod führende Festhalten der tragischen Helden an ihren Überzeugungen bedeutet, wie Whitman meint, zugleich einen moralischen Triumph der Figuren, deren Ideale durch keine noch so starke äußerliche Einflussnahme gebrochen werden können.24Vgl. Whitman: Sophocles, 1951, 223. Wie bereits angedeutet sind die Haltungen charakterlicher Helden jedoch üblicherweise auch durch gewisse Einseitigkeiten geprägt, sodass die uneingeschränkt positive Bewertung tragischer Helden in der zeitgenössischen Forschung selten vertreten wird. Als fragwürdig dürften sich allerdings auch ‚pietistische‘ Extrempositionen erweisen, in deren Rahmen die tragischen Figuren in ihrem Entscheiden und Handeln zu negativen Exempla reduziert würden.

Wie man zusammenfassend sagen kann, scheinen sich tragische Helden in ihrer Wirkung (wenigstens auf moderne Interpreten) gerade dadurch auszuzeichnen, dass sie angesichts ihrer (Über-)Größe und ihrer oftmals ambivalenten Lebensentscheidungen gleichermaßen Bewunderung als auch (partielle) Reserve hervorrufen können.

2.4. Seneca

Seneca verarbeitet in seinen Tragödien ebenso wie die attischen Tragiker mythologische Stoffe. Für fast alle seine Stücke ist eine griechische Vorlage erhalten. Wesentlich stärker als die attische Tragödie sind Senecas Dramen durch implizite zeitgeschichtliche Bezüge und durch philosophisches, namentlich stoisches Gedankengut geprägt. Ein wiederkehrendes, die Medialität der Senecanischen Tragödien betreffendes Forschungsproblem ist die Frage, ob Senecas Dramen tatsächlich aufgeführt werden sollten/konnten, oder ob man sie als reine Lesestücke bzw. Rezitationsstücke verstehen sollte.25Vgl. ausführlich dazu Zwierlein, Otto: Die Rezitationsdramen Senecas. Meisenheim am Glan 1966: Hain; Kugelmeier, Christoph: Die innere Vergegenwärtigung des Bühnenspiels in Senecas Tragödien. München 2007: C. H. Beck.

Mit Blick auf die Senecanischen tragischen Helden hat man das Bedenken geäußert, Dramen stoischer Prägung müssten angesichts der Wertontologie der Stoa zwangsläufig „untragisch“ im Sinne des Aristotelischen Tragikverständnisses geraten.26Vgl. dazu Fritz, Kurt von: Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie“. In: Fritz, Kurt von: Antike und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen. Berlin 1962: Walter de Gruyter, 1-112, 22-24. Gemäß den oben behandelten Bestimmungen der Poetik wird die eigentümliche Wirkung der Tragödie hervorgerufen, wenn ein charakterlich guter Mensch ins Unglück stürzt. Nach stoischer Überzeugung sei der gute Mensch jedoch einzig und allein durch seine tugendhafte innere Haltung gut und sein Glück könne durch kein noch so großes äußeres Unglück beschädigt werden. Diese Überlegung wäre freilich nur dann abschließend überzeugend, wenn die stoische Gütertheorie in Senecas Tragödien und in seinen übrigen Schriften restlos konsequent umgesetzt würde und der ins Unglück stürzende Mensch ein stoischer Weiser im strikten Sinn wäre – die vorausgesetzten diskontinuierlichen ethischen Dichotomien wird man allerdings eher in der alten Stoa verorten dürfen. Vertreter der jüngeren Stoa rechnen durchaus zum einen mit einem relativen Wert äußerer Güter, zum anderen mit verschiedenen Entwicklungsstadien philosophischer Adepten auf dem Weg zur charakterlichen Vollkommenheit; sie favorisieren also ein Modell, das bei grundsätzlicher Orientierung an der Tugend Imperfektionen gestattet.27Seneca selbst bekennt sich etwa im 75. Brief an Lucilius zur Lehre des auf dem Weg zur Tugend Fortschreitenden (προκόπτων, proficiens).

Was die Senecanische Tragödie in jedem Fall wirkungsvoll und im Einklang mit stoischen Philosophemen zu demonstrieren versteht, ist die zerstörerische Wirkung des Affekts, der sich, wenn er sich erst einmal als handlungsleitende Kraft in der Seele etabliert hat, zu gravierenden Konsequenzen für die dramatis personae und für ihr Umfeld führt. Im Gegensatz zu den griechischen Vorbildern setzt Seneca wiederholt auf die erschütternde Wirkung blutiger Taten auf offener (gegebenenfalls nur imaginierter) Bühne. So hat etwa, um ein prominentes Beispiel zu nennen, die Senecanische Medea im Gegensatz zu ihrer Euripideischen Vorgängerin ihre Kinder nicht beide hinterszenisch ermordet. Vielmehr führt Senecas Medea den Mord an einem verbliebenen Kind auf dem Palastdach, also sichtbar für Jason und für das Publikum, durch und wirft die Leichen der Kinder anschließend von dort herab.28Vgl. den finalen Akt Sen. Med. 879-1027. Eine wiederkehrende Eigenheit neben der blutrünstigen Darstellung der Konsequenzen ungebändigter Affektivität sind Passagen, die emphatisches Lob für die freiwillige Fügung einer Figur unter einen (vermeintlich) üblen Gang ihres Schicksals enthalten – getreu dem Kleanthesdiktum, dem zufolge der Weise sich dem unumgänglichen Schicksal freiwillig, der Schlechte sich unfreiwillig füge (Sen. epist. 107,11; Epict. Ench. 53). Beispiele für derartige mit stoischer Gelassenheit vollzogene Schicksalsfügungen bieten etwa die Reaktionen trojanischer Figuren wie Priamos, Polyxena und Astyanax, die in Senecas Troades freiwillig (liber), gern (libens) oder sogar frohgemut (laetus) den ihnen beschiedenen Tod auf sich nehmen.29Vgl. dazu Krewet, Michael: „Perspektiven für die Frage nach dem Tragischen in Senecas Tragödie“. In: Hermes 145 (2017) 458-479, 470-474.

Die tragischen Helden bzw. die Haupt- und Nebenfiguren der Senecanischen Tragödien haben, wie man ausgehend von diesen Eigenheiten und dem philosophischen Hintergrund Senecas folgern darf, eine doppelte Wirkabsicht:30Vgl. überblicksartig zum Wirkpotenzial von Senecas Tragödien Lefèvre, Eckard: „Die philosophische Bedeutung der Seneca-Tragödie am Beispiel des Thyestes“. In: Haase, Wolfgang u. a. (Hg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW) 32,2. Berlin u. a. 1985: Walter de Gruyter, 362-382, 363-364. Sie fungieren einerseits als abschreckende Beispiele,31Vgl. Lefèvre: „Die philosophische Bedeutung der Seneca-Tragödie“, 1985, 362 zu den Senecanischen Tragödien als „Abschreckungsbildern“. andererseits als Vorbilder. Die von Seneca entworfenen Helden dienen mithin – deutlicher als die dramatis personae der attischen Tragödie – einem (philosophischen und gesellschaftspolitischen) Lehrinteresse.

Eine mediale Entwicklung der kaiserzeitlichen römischen Tragödie lässt sich dahingehend beobachten, dass die ⟶Gattung als Instrument der Herrschaftskritik verwendet werden konnte. Senecas jüngerer Zeitgenosse Tacitus berichtet etwa, dass der Dichter Curiatius Maternus durch die Rezitation seines Cato an höchster Stelle Anstoß erregt habe.32Vgl. Tac. dial. 1-2 (dort 2,1: offendisse potentium animos). Möglicherweise nutzte Maternus den republikanischen Helden Cato, um eine Kritik am Prinzipat zu transportieren.33Vgl. zur entsprechenden Diskussion Manuwald, Gesine: „Der Dichter Curiatius Maternus in Tacitus’ Dialogus de oratoribus“. In: Göttinger Forum für die Altertumswissenschaft 4 (2001), 1-20, 5, Anm. 7 (mit weiterer Literatur). Manuwald selbst schließt sich der prinzipatskritischen Deutung aus textinternen Gründen nicht an. In der Stadt sei, wie Tacitus weiter schreibt, über den Vorfall viel geredet worden.34Tac. dial. 2,1: eaque de re per urbem frequens sermo haberetur.

3. Der tragische Held in der deutschen Klassik

Einen entscheidenden Beitrag zu verbreiteten modernen Vorstellungen von „Tragik“, insbesondere zur Annahme eines schuldlosen Scheiterns des tragischen Helden, hat das Tragikverständnis der deutschen Klassik geleistet. Anders als in der Antike haben normbildende Dichter wie Lessing, Schiller und Goethe in dieser Zeit eine Reihe von tragödientheoretischen Äußerungen hinterlassen. Angesichts des Einflusses dieser Überlegungen stellt die deutsche Klassik einen der wichtigsten tragödientheoretischen Knotenpunkte dar.

Das Tragikverständnis prägender Autoren (insbesondere Schillers) sowie die philosophischen Voraussetzungen und die Rezeptionsgeschichte ihrer Dramentheorien hat der Gräzist Arbogast Schmitt vor der Folie der Aristotelischen Tragödientheorie in mehreren Publikationen beleuchtet.35Vgl. Schmitt, Arbogast: „Tragische Schuld in der griechischen Antike“. In: Eifler, Günther / Saame, Otto (Hg.): Die Frage nach der Schuld. Mainz 1988: Johannes-Gutenberg-Universität, 157-192; Schmitt, Arbogast: „Wesenszüge der griechischen Tragödie. Schicksal, Schuld, Tragik“. In: Flashar, Hellmut (Hg.): Tragödie. Idee und Transformation. Stuttgart u. a. 1997: B. G. Teubner, 5-49; Schmitt, Arbogast: „Zur Aristoteles-Rezeption in Schillers Theorie des Tragischen. Hermeneutisch-kritische Anmerkungen zur Anwendung neuzeitlicher Tragikkonzepte auf die griechische Tragödie“. In: Zimmermann, Bernhard (Hg.): Antike Dramentheorien und ihre Rezeption. Stuttgart 1992: M&P, 191-213. Kantische Philosopheme wie eine strikte Unterscheidung von Sinnlichkeit und Vernunft sowie Neigung und Pflicht sind wichtige theoretische Hintergrundannahmen für das veränderte Tragikverständnis. Schillers Überlegungen zufolge besteht die Leistung der Tragödie darin, einen Aufweis der menschlichen Freiheit zu leisten, die sich als absolute Freiheit gegen alle natürlichen und sinnlichen Einflüsse behaupten kann.36Vgl. Schmitt: „Tragische Schuld in der griechischen Antike“, 1988, 168-170. Eine besonders effektive Demonstration der Möglichkeit freien, pflichtgemäßen Entscheidens gelingt dann, wenn der tragische Held eine Entscheidung nach Art von Schillers Jungfrau von Orléans trifft: Diese entscheidet sich zugunsten des pflichtgemäßen Kampfes für das Vaterland gegen ihre Neigung (= die Liebe zum englischen Anführer Lionel) und nimmt dabei den eigenen physischen Untergang in Kauf.37Die von „unsrer autonomischen Vernunft“ bestimmte moralische Zweckmäßigkeit wird, wie Schiller schreibt, am deutlichsten erkannt, wenn sie die Oberhand im Kampf mit Naturkräften behält; unter diese rechnet Schiller „Empfindungen, Triebe, Affekte, Leidenschaften so gut als die physische Notwendigkeit und das Schicksal“. Vgl. Schiller, Friedrich: „Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen“. In: Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 234-250, 241. Vgl. auch ebd. 243 zur besonderen Evidenz einer pflichtgemäßen Aufopferung des eigenen Lebens, vermöge der gegen das „höchste Interesse der Sinnlichkeit“ verstoßen wird.

Der tragische Held verschuldet seinen Untergang unter diesen Voraussetzungen nicht selbst durch einen moralisch zurechenbaren Fehler;38Vgl. Schiller, Friedrich: „Über die tragische Kunst“. In: Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 251-275, 258-259. vor allem ist der physische Untergang – anders als in der attischen Tragödie – keine Niederlage des tragischen Helden, sondern ein Sieg seiner Moralität. Der tragische Held zeigt sich gerade durch seinen physischen Untergang als sittlich gefestigtes Individuum. Das Inkaufnehmen seiner physischen Vernichtung ist der stärkste Ausdruck der Unabhängigkeit von allen Neigungen und ein Ausdruck seines pflichtgemäßen Entscheidens.39Vgl. besonders Schmitt: „Tragische Schuld in der griechischen Antike“, 1988, 170-171.

Eine oftmals auf die antike Tragödie zurückprojizierte Formel für die Modalitäten tragischen Scheiterns hat Goethe mit seinem Diktum geprägt, der tragische Held werde unschuldig schuldig.40Vgl. etwa Schadewaldt, Wolfgang: Die griechische Tragödie. Tübinger Vorlesungen Bd. 4. Frankfurt 1991: Suhrkamp, 31. Man glaubte, auch in der attischen Tragödie die objektive moralische Anstößigkeit von Taten wie Ödipus’ Mutterehe oder Deianeiras versehentliche Tötung ihres Gatten Herakles von der subjektiven Verantwortung unterscheiden zu können.41Vgl. Fritz, Kurt von: „Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie“. In: Fritz, Kurt von: Antike und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen. Berlin 1962: Walter de Gruyter, 1-112, 30: Die Hamartie des tragischen Helden bestehe in einer objektiv moralisch schrecklichen Handlung, die ohne subjektive Schuld begangen werde.

4. Forschungsperspektiven: Tragisches Heldentum in einigen modernen Interpretationen und in anderen Gattungen

Seit der Antike ist eine kaum noch zu überblickende Vielzahl von Untersuchungen zum Konzept des Tragischen entstanden. An dieser Stelle kann mithin nur ein kurzer Ausblick auf dieses Forschungsfeld gegeben werden.

Jüngere tragödientheoretische Arbeiten haben die charakterliche Prägung des tragischen Helden gegenüber möglichen anderen Aspekten tragischen Handelns und Scheiterns tendenziell eher relativiert (ohne die Relevanz bestimmter Charakterzüge notwendigerweise strikt abzulehnen).42Vgl. etwa Willms: Transgression, Tragik und Metatheater, 2014; Trautsch, Asmus: Der Umschlag von allem in nichts. Theorie tragischer Erfahrung. Berlin u. a. 2020: De Gruyter, zur interpretatorischen Relevanz der Hamartie hier: 144. Eine Aufwertung erfahren gegenüber den charakterlichen Merkmalen strukturelle Momente der Handlung (verschiedene Formen von Transgressionen) oder die zahlreichen äußerlichen Handlungsfaktoren, die sich in den Einzelstücken jeweils auf unterschiedliche Weise auswirken und somit gerade keine allein maßgebliche Ursache für das Scheitern des tragischen Helden zu identifizieren ermöglichen.

Auch in einflussreichen modernen Arbeiten wird vielfach der Anschluss an die (unterschiedlich interpretierte) aristotelische Poetik und ihr Heldenbild gesucht. Szondi betont etwa in seinem Versuch über das Tragische anknüpfend an Aristoteles, der tragische Held komme nicht aufgrund eines charakterlichen Fehlers zu Fall; im Gegenteil gehe seine „Verschuldung dialektisch aus einer freilich nur angenäherten Tugendhaftigkeit hervor[…] .“43Vgl. Szondi, Peter: Versuch über das Tragische. In: Szondi, Peter. Schriften. Bd. 1. Frankfurt a. M. 2011: Suhrkamp, 149-260, 205-206. Diese Formel für das Scheitern des Helden hat bereits in der älteren Tragödienforschung einige Fürsprecher.44Vgl. etwa zum Sophokleischen Aias bereits Welcker, Friedrich G.: „Ueber den Aias des Sophokles“. In: Rheinisches Museum für Philologie 3 (1829), 43-92, 68: „Aber es scheint mir, daß Aias weit mehr durch das, was er ist, als durch das, was er fehlte, das Drama erfüllt […] .“; vgl. in jüngerer Zeit wieder Trautsch: Der Umschlag von allem in nichts, 2020, 112: „Wer generell gut bzw. klug handelt, kann dennoch und gerade deswegen untergehen. […] Die Handelnden bereiten sich selbst ihr leidvolles Schicksal, indem sie überhaupt handeln. Ihr Leid erwächst aus dem, was kulturell als das Abwehrmittel des Leidens verstanden wird: der eigenen ernsthaften Praxis“. Unabhängig von der Frage, ob man diese Kombination von charakterlicher Qualität und Handlungsstruktur mit Blick auf die Tragik der attischen Tragödie für einschlägig hält, dürfte sich die Berufung auf Aristoteles jedoch als problematisch erweisen: Das von Szondi zur Begründung der These herangezogene 13. Kapitel gibt ein solches Verständnis nicht her. Dort bleibt die exakte Ursache für die Hamartie des tragischen Helden zwar notorisch unterbestimmt. Es wird aber ausgeschlossen, dass eine charakterliche Schlechtigkeit die Ursache ist; auf derselben grammatischen Ebene steht die Festlegung, dass der mittlere Charakter nicht vollkommen gerecht sei –45Vgl. für die exakte Formulierung Arist. Po. 1453a7-10. er kommt also nicht in dem skizzierten prägnanten Sinn aufgrund seiner Vortrefflichkeit zu Schaden.

Zu den fruchtbaren perspektivischen Erweiterungen der jüngeren Forschung zählt die Untersuchung der Frage, inwiefern zentrale Aspekte tragischen Heldentums und tragischen Handelns bereits vor der Tragödie existieren (z. B. im homerischen Epos) und inwiefern sie Eingang in andere Gattungen (z. B. in das nachhomerische Epos, in die Historiographie etc.) gefunden haben und dort fortwirken.46Vgl. exemplarisch Galinsky, Karl: „Greek and Roman Drama and the Aeneid“. In: Braund, David / Gill, Christopher (Hg.): Myth, History and Culture in Republican Rome. Studies in Honour of T. P. Wiseman. Exeter 2003: University of Exeter Press, 275-294; Schmitt, Arbogast: „Tragik vor der Tragödie? Scheiterndes Handeln im Homerischen Epos – und ein kurzer Vergleich mit dem Scheitern des Handelns im mittelalterlichen Nibelungenepos“. In: Toepfer, Regina / Radke-Uhlmann, Gyburg (Hg.): Tragik vor der Moderne. Literaturwissenschaftliche Analysen. Heidelberg 2015: Winter, 201-244; Schmitz, Christine: „Tragisches Design: Myrrhas inzestuöse Leidenschaft in Orpheus’ Erzählungen (Ov. met. 10,298–502)“. In: Toepfer, Regina / Radke-Uhlmann, Gyburg (Hg.): Tragik vor der Moderne. Literaturwissenschaftliche Analysen. Heidelberg 2015: Winter, 245-283; Ambühl, Annemarie: „Intergeneric Influences and Interactions“. In: Reitz, Christiane / Finkmann, Simone (Hg.): Structures of Epic Poetry. Bd. 1. Berlin u. a. 2019: De Gruyter, 167-192, bes. 171-180; Haywood, Jan / Post, Doris: „The Downfall of Croesus and Oedipus. Tracing Affinities Between Herodotus’ Histories and Sophocles’ Oedipus Tyrannus“. In: Classical World 115 (2021-2022), 225-259.

5. Einzelnachweise

  • 1
    Ausnahmen bilden Tragödien wie die Aischyleischen Perser oder Phrynichos’ nicht überlieferte Eroberung Milets, die beide historische Stoffe behandelten. Die Überlieferung der Titel nicht erhaltener Tragödien zeigt, dass der Mangel an historischen Dramen bei den drei Tragikern repräsentativ für die allgemeine Tendenz der Stoffauswahl ist. Aristoteles zufolge wurden des Weiteren auch Tragödien aufgeführt, die bezüglich des Figureninventars und der Handlung rein fiktional waren, also weder ein historisches noch ein mythisches Vorbild hatten (s. Arist. Po. 1451b19-21 für das Beispiel von Agathons Antheus).
  • 2
    Der Terminus „tragischer Held“ taucht erstmals bei italienischen Renaissance-Philologen auf. Vgl. Seidensticker, Bernd: „Die Zerstörung des Helden bei Euripides“. In: Seidensticker, Bernd: Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen. Studien zum antiken Drama. Hg. v. Jens Holzhausen. München u. a. 2005, 193-216, 195.
  • 3
    Vgl. zu diesen Pickard-Cambridge, Arthur: The Dramatic Festivals of Athens. Oxford 21968: Oxford University Press, 57-125. Auch bei den Lenäen kamen Tragödien zur Aufführung. Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass in intellektuellen Kreisen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts Leseexemplare von Tragödien zirkulierten.
  • 4
    Vgl. zur Konstitution der Theaterjury und zum Prozess der Stimmabgabe Blume, Horst-Dieter: Einführung in das antike Theaterwesen. Darmstadt 1978: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 40-43.
  • 5
    Erst ab 386 v. Chr. wurden regelmäßig auch ältere Stücke bei den Festspielen aufgeführt. Zuvor bestand eine diesbezügliche Ausnahmeregelung lediglich für die Aischyleische Tragödie. Vgl. Pickard-Cambridge: The Dramatic Festivals of Athens, 1968, 99-100.
  • 6
    Den Charakter der Tragödie als eines auf „Massenwirkung“ angelegten „Massenmediums“ betont z. B. Willms, Lothar: Transgression, Tragik und Metatheater. Versuch einer Neuinterpretation des antiken Dramas. Tübingen 2014: Narr Franke Attempto, 1.
  • 7
    Vgl. zur Charakteristik des Sophokleischen Helden insbesondere Knox, Bernard M. W.: The Heroic Temper. Studies in Sophoclean Tragedy. Berkeley u. a. 1964: University of California Press; zu den nachfolgend genannten Eigenschaften des Sophokleischen Helden ebd. 9-27. Prägnant zur Dialektik heroischer Größe und der mit ihr verbundenen Gefährdung Winnington-Ingram, Reginald P.: Sophocles. An Interpretation. Cambridge 1980: Cambridge University Press, 9: „Now, if one thing is certain, one generalization valid, it is that the Sophoclean hero is not himself sophron in any ordinary sense of the word. A man or a woman of excess, an extremist, obstinate, inaccessible to argument, he refuses to compromise with the conditions of human life.“; ebd. 317: „ […] The heroes have a dimension of greatness beyond the measure of normal humanity: they go on where ordinary men would stop. It is a kind of excess and excess is dangerous“. Am schwersten dürfte die Suche nach allgemeinen Charakteristika tragischer Helden in Euripides’ Stücken fallen (man vergleiche etwa die höchst spezifischen Ausgangskonflikte und Charakterzüge von Ion, Hippolytos, Medea und Andromache).
  • 8
    Die Konfliktsituation ist in diesem Fall freilich in besonderer Weise zugespitzt. Falls Agamemnon sich gegen die Opferung Iphigenies entschieden hätte, wäre ein unter Aufbietung enormer Ressourcen geplantes gesamtgriechisches Unternehmen gescheitert. Agamemnon bemerkt daher nicht zu Unrecht, dass beide Handlungsalternativen mit Übeln verbunden sind: A. Ag. 211. Die Formel für seine Tragik liegt dennoch nicht zwangsläufig in der Notwendigkeit, zwischen zwei Handlungsalternativen wählen zu müssen, die gleichermaßen problembehaftet sind. Das Problem könnte auch darin bestehen, dass Agamemnon das größere von zwei Übeln wählt.
  • 9
    Der Konflikt wird in gebündelter Form in den ersten Äußerungen von Aphrodite und Hippolytos entfaltet. Vgl. E. Hipp. 21-22 zu Aphrodites Kritik an Hippolytos’ Verfehlung und zu ihren Racheplänen; Hipp. 79-81 für Hippolytos’ Rekurs auf die eigene Besonnenheit und die Schlechtigkeit der unkeuschen Menschen.
  • 10
    Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die drei Tragiker oftmals auch unter entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkten betrachtet werden (von Aischylos als dem traditionellen Denken am stärksten verhafteter Dichter, über Sophokles, der die Blütezeit Athens, aber auch die Gefährdung durch den Pelopponesischen Krieg erlebt hat, hin zu Euripides, der bereits stark von sophistischem Denken beeinflusst ist). Der Problemkomplex kann allerdings an dieser Stelle nicht aufgearbeitet werden.
  • 11
    Der diesbezüglich einschlägige Verblendungsbegriff (ἄτη) taucht bereits im Epos und in der frühgriechischen Dichtung auf. Allerdings bezeichnet er schon dort eher einen heterogenen Vorstellungskomplex als ein einheitliches Konzept. Dies zeigt prägnant ein Definitionsversuch bei Stallmach, Josef: Ate. Meisenheim am Glan 1968: Hain, 102: „Ate ist das von dem Gott willkürlich oder als Strafe verhängte, in der daimonischen Konstellation des Geschlechtes oder aus der immanenten Dike des Weltgeschehens sich ergebende Unheil und dies in seiner Verwirklichung durch das menschliche Handeln, das, durch Verblendung, Betörung oder Frevelmut fehlgehend, in den im Laufe der Dinge sich dann ergebenden schlimmen Folgen sich selbst am Handelnden rächt“. Die diffizile Verschränkung von menschlicher Schuld und göttlicher Einflussnahme zeigt sich in Sophokles’ Aias, wo Odysseus den ‚mit schlimmer Ate zusammengejochten‘ Helden bedauert (Aj. 121-123). Aias wird in der Tat von Athene mit Wahnsinn geschlagen – aber erst, nachdem er wegen einer persönlichen Kränkung beim Entscheid des Waffengerichts einen nächtlichen Anschlag auf die griechischen Heerführer in die Wege geleitet hat.
  • 12
    Vgl. exemplarisch bereits Wilamowitz, Ulrich von: „Excurse zum Oedipus des Sophokles“. In: Hermes 34 (1899), 55-80, 59: „ […] dass das Menschenschicksal unberechenbar und jeder göttlichen Heimsuchung ausgesetzt ist […]“; sodann Schadewaldt, Wolfgang: „Der ‚König Ödipus‘ des Sophokles in neuer Deutung“. In: Schweizer Monatshefte 36 (1956), 21-31, 30-31: „Was das Ödipus-Drama an einem Beispiel von extremer Schärfe herausstellt, das ist […] jene ausgesetzte, in nichts geschützte Lage, in welcher der Mensch nun einmal Mensch ist“; Manuwald, Bernd: König Ödipus, herausgegeben, übersetzt und kommentiert. Berlin u. a. 2018: Walter de Gruyter, 45: „ […] ein Beispiel […] für die Nichtigkeit menschlichen Lebens […], für die Ausgesetztheit und Bedrohtheit des menschlichen Daseins.“
  • 13
    Vgl. dazu mit weiteren Literaturhinweisen Lurje, Michael: Die Suche nach der Schuld. Sophokles’ Oedipus Rex, Aristoteles’ Poetik und das Tragödienverständnis der Neuzeit. München u. a. 2004: K. G. Saur, 245-246.
  • 14
    Medea besitzt, wie die Dramaturgie des finalen Auftritts zeigt, (spätestens) am Schluss des Stücks einige übermenschliche, möglicherweise auch durch die grausame Tat begründete entmenschlichte Züge; diese Entmenschlichung markiert Euripides aber nicht deutlich als Scheitern; vielmehr scheint Medea, wie verschiedene kompositorische Mittel der Schlussszene nahelegen (räumliche Annäherung an den üblicherweise dem deus ex machina vorbehaltenen Bühnenraum; Fähigkeit zur Prophetie) dämonisch-göttliche Züge zu besitzen und durch ihre übermenschliche Natur den katastrophalen psychischen Konsequenzen des Verwandtenmordes entzogen zu sein, die z. B. Orest und Elektra in Euripides’ Elektra erleben.
  • 15
    Vgl. zur tragödientheoretischen Behandlung dieses Aspekts Lefèvre, Eckard: Die Unfähigkeit, sich zu erkennen. Sophokles’ Tragödien. Leiden u. a. 2001: Brill, 169-170, Anm. 144.
  • 16
    Einen instruktiven, streckenweise polemisch stark zugespitzten Überblick am Beispiel der Interpretationsgeschichte des Sophokleischen König Ödipus gibt Lurje, Michael: Die Suche nach der Schuld, 2004; vgl. auch Kappl, Brigitte: Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento. Berlin u. a. 2006: De Gruyter.
  • 17
    Vgl. wiederum Lurje, Michael: Die Suche nach der Schuld, 2004, der für eine Rückkehr zu den Forschungsansätzen von Wilamowitz, Dodds, Schadewaldt und anderen votiert.
  • 18
    Vgl. S. OT 779-780 für Ödipus’ Bericht über die Bemerkung eines Betrunkenen zu seinem Adoptivstatus.
  • 19
    Bei den Euripideischen Prologgöttern (z. B. Alkestis, Hippolytos, Bakchen) finden jedoch (im Gegensatz) zur Funktion Athenes im Sophokleischen Aias keine Eingriffe in die Handlung statt, sondern die Götter exponieren das nachfolgende Geschehen und deuten es proleptisch. Vgl. zum Themenkomplex auch Erbse, Hartmut: Studien zum Prolog der euripideischen Tragödie. Berlin u. a. 1984: De Gruyter.
  • 20
    Vgl. Arist. Po. 1449b24-28.
  • 21
    Eine kathartische Befreiung von Affekten wird etwa in der Aristotelischen Politik behandelt (s. dazu besonders Pol. 1341a9-1342b34). In den Ethiken nimmt dagegen in der Frage nach dem angemessenen Umgang mit Affekten bekanntermaßen die Metriopathielehre eine Schlüsselrolle ein.
  • 22
    Vgl. für die Unterscheidung und ihre Ursprünge Winnington-Ingram: Sophocles, 1980, 9, inkl. Anm. 16.
  • 23
    Vgl. Whitman, Cedric: Sophocles. A Study of Heroic Humanism. Cambridge Massachusetts 1951: Harvard University Press, 251.
  • 24
    Vgl. Whitman: Sophocles, 1951, 223.
  • 25
    Vgl. ausführlich dazu Zwierlein, Otto: Die Rezitationsdramen Senecas. Meisenheim am Glan 1966: Hain; Kugelmeier, Christoph: Die innere Vergegenwärtigung des Bühnenspiels in Senecas Tragödien. München 2007: C. H. Beck.
  • 26
    Vgl. dazu Fritz, Kurt von: Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie“. In: Fritz, Kurt von: Antike und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen. Berlin 1962: Walter de Gruyter, 1-112, 22-24.
  • 27
    Seneca selbst bekennt sich etwa im 75. Brief an Lucilius zur Lehre des auf dem Weg zur Tugend Fortschreitenden (προκόπτων, proficiens).
  • 28
    Vgl. den finalen Akt Sen. Med. 879-1027.
  • 29
    Vgl. dazu Krewet, Michael: „Perspektiven für die Frage nach dem Tragischen in Senecas Tragödie“. In: Hermes 145 (2017) 458-479, 470-474.
  • 30
    Vgl. überblicksartig zum Wirkpotenzial von Senecas Tragödien Lefèvre, Eckard: „Die philosophische Bedeutung der Seneca-Tragödie am Beispiel des Thyestes“. In: Haase, Wolfgang u. a. (Hg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW) 32,2. Berlin u. a. 1985: Walter de Gruyter, 362-382, 363-364.
  • 31
    Vgl. Lefèvre: „Die philosophische Bedeutung der Seneca-Tragödie“, 1985, 362 zu den Senecanischen Tragödien als „Abschreckungsbildern“.
  • 32
    Vgl. Tac. dial. 1-2 (dort 2,1: offendisse potentium animos).
  • 33
    Vgl. zur entsprechenden Diskussion Manuwald, Gesine: „Der Dichter Curiatius Maternus in Tacitus’ Dialogus de oratoribus“. In: Göttinger Forum für die Altertumswissenschaft 4 (2001), 1-20, 5, Anm. 7 (mit weiterer Literatur). Manuwald selbst schließt sich der prinzipatskritischen Deutung aus textinternen Gründen nicht an.
  • 34
    Tac. dial. 2,1: eaque de re per urbem frequens sermo haberetur.
  • 35
    Vgl. Schmitt, Arbogast: „Tragische Schuld in der griechischen Antike“. In: Eifler, Günther / Saame, Otto (Hg.): Die Frage nach der Schuld. Mainz 1988: Johannes-Gutenberg-Universität, 157-192; Schmitt, Arbogast: „Wesenszüge der griechischen Tragödie. Schicksal, Schuld, Tragik“. In: Flashar, Hellmut (Hg.): Tragödie. Idee und Transformation. Stuttgart u. a. 1997: B. G. Teubner, 5-49; Schmitt, Arbogast: „Zur Aristoteles-Rezeption in Schillers Theorie des Tragischen. Hermeneutisch-kritische Anmerkungen zur Anwendung neuzeitlicher Tragikkonzepte auf die griechische Tragödie“. In: Zimmermann, Bernhard (Hg.): Antike Dramentheorien und ihre Rezeption. Stuttgart 1992: M&P, 191-213.
  • 36
    Vgl. Schmitt: „Tragische Schuld in der griechischen Antike“, 1988, 168-170.
  • 37
    Die von „unsrer autonomischen Vernunft“ bestimmte moralische Zweckmäßigkeit wird, wie Schiller schreibt, am deutlichsten erkannt, wenn sie die Oberhand im Kampf mit Naturkräften behält; unter diese rechnet Schiller „Empfindungen, Triebe, Affekte, Leidenschaften so gut als die physische Notwendigkeit und das Schicksal“. Vgl. Schiller, Friedrich: „Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen“. In: Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 234-250, 241. Vgl. auch ebd. 243 zur besonderen Evidenz einer pflichtgemäßen Aufopferung des eigenen Lebens, vermöge der gegen das „höchste Interesse der Sinnlichkeit“ verstoßen wird.
  • 38
    Vgl. Schiller, Friedrich: „Über die tragische Kunst“. In: Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 251-275, 258-259.
  • 39
    Vgl. besonders Schmitt: „Tragische Schuld in der griechischen Antike“, 1988, 170-171.
  • 40
    Vgl. etwa Schadewaldt, Wolfgang: Die griechische Tragödie. Tübinger Vorlesungen Bd. 4. Frankfurt 1991: Suhrkamp, 31.
  • 41
    Vgl. Fritz, Kurt von: „Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie“. In: Fritz, Kurt von: Antike und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen. Berlin 1962: Walter de Gruyter, 1-112, 30: Die Hamartie des tragischen Helden bestehe in einer objektiv moralisch schrecklichen Handlung, die ohne subjektive Schuld begangen werde.
  • 42
    Vgl. etwa Willms: Transgression, Tragik und Metatheater, 2014; Trautsch, Asmus: Der Umschlag von allem in nichts. Theorie tragischer Erfahrung. Berlin u. a. 2020: De Gruyter, zur interpretatorischen Relevanz der Hamartie hier: 144.
  • 43
    Vgl. Szondi, Peter: Versuch über das Tragische. In: Szondi, Peter. Schriften. Bd. 1. Frankfurt a. M. 2011: Suhrkamp, 149-260, 205-206.
  • 44
    Vgl. etwa zum Sophokleischen Aias bereits Welcker, Friedrich G.: „Ueber den Aias des Sophokles“. In: Rheinisches Museum für Philologie 3 (1829), 43-92, 68: „Aber es scheint mir, daß Aias weit mehr durch das, was er ist, als durch das, was er fehlte, das Drama erfüllt […] .“; vgl. in jüngerer Zeit wieder Trautsch: Der Umschlag von allem in nichts, 2020, 112: „Wer generell gut bzw. klug handelt, kann dennoch und gerade deswegen untergehen. […] Die Handelnden bereiten sich selbst ihr leidvolles Schicksal, indem sie überhaupt handeln. Ihr Leid erwächst aus dem, was kulturell als das Abwehrmittel des Leidens verstanden wird: der eigenen ernsthaften Praxis“.
  • 45
    Vgl. für die exakte Formulierung Arist. Po. 1453a7-10.
  • 46
    Vgl. exemplarisch Galinsky, Karl: „Greek and Roman Drama and the Aeneid“. In: Braund, David / Gill, Christopher (Hg.): Myth, History and Culture in Republican Rome. Studies in Honour of T. P. Wiseman. Exeter 2003: University of Exeter Press, 275-294; Schmitt, Arbogast: „Tragik vor der Tragödie? Scheiterndes Handeln im Homerischen Epos – und ein kurzer Vergleich mit dem Scheitern des Handelns im mittelalterlichen Nibelungenepos“. In: Toepfer, Regina / Radke-Uhlmann, Gyburg (Hg.): Tragik vor der Moderne. Literaturwissenschaftliche Analysen. Heidelberg 2015: Winter, 201-244; Schmitz, Christine: „Tragisches Design: Myrrhas inzestuöse Leidenschaft in Orpheus’ Erzählungen (Ov. met. 10,298–502)“. In: Toepfer, Regina / Radke-Uhlmann, Gyburg (Hg.): Tragik vor der Moderne. Literaturwissenschaftliche Analysen. Heidelberg 2015: Winter, 245-283; Ambühl, Annemarie: „Intergeneric Influences and Interactions“. In: Reitz, Christiane / Finkmann, Simone (Hg.): Structures of Epic Poetry. Bd. 1. Berlin u. a. 2019: De Gruyter, 167-192, bes. 171-180; Haywood, Jan / Post, Doris: „The Downfall of Croesus and Oedipus. Tracing Affinities Between Herodotus’ Histories and Sophocles’ Oedipus Tyrannus“. In: Classical World 115 (2021-2022), 225-259.

6. Ausgewählte Literatur

  • Flashar, Hellmut (Hg.): Tragödie. Idee und Transformation, Stuttgart u. a. 1997: B. G. Teubner.
  • Fritz, Kurt von: „Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie“. In: Fritz, Kurt von: Antike und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen. Berlin 1962: Walter de Gruyter, 1-112.
  • Knox, Bernard M. W.: The Heroic Temper. Studies in Sophoclean Tragedy. Berkeley u. a. 1964: University of California Press.
  • Lefèvre, Eckard: „Die philosophische Bedeutung der Seneca-Tragödie am Beispiel des ‚Thyestes‘“. In: Haase, Wolfgang u. a. (Hg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW) 32,2. Sprache und Literatur (Literatur der Julisch-Claudischen und der Flavischen Zeit), Berlin u. a. 1985: Walter de Gruyter, 362-382.
  • Lefèvre, Eckard: Die Unfähigkeit, sich zu erkennen. Sophokles’ Tragödien, Leiden u. a. 2001: Brill.
  • Lurje, Michael: Die Suche nach der Schuld. Sophokles’ ‚Oedipus Rex‘, Aristoteles’ ‚Poetik‘ und das Tragödienverständnis der Neuzeit. München u. a. 2004: K. G. Saur.
  • Schadewaldt, Wolfgang: Die griechische Tragödie. Tübinger Vorlesungen Bd. 4. Frankfurt 1991: Suhrkamp.
  • Schmitt, Arbogast: „Tragische Schuld in der griechischen Antike“. In: Eifler, Günther / Saame, Otto (Hg.): Die Frage nach der Schuld. Mainz 1988: Johannes-Gutenberg-Universität, 157-192.
  • Schmitt, Arbogast: „Wesenszüge der griechischen Tragödie. Schicksal, Schuld, Tragik“. In: Flashar, Hellmut (Hg.): Tragödie. Idee und Transformation. Stuttgart u. a. 1997: B. G. Teubner, 5-49.
  • Schmitt, Arbogast: Aristoteles. Poetik, Berlin 2008: Akademie-Verlag.
  • Szondi, Peter: Versuch über das Tragische. In: Szondi, Peter. Schriften. Bd. 1. Frankfurt a. M. 2011: Suhrkamp, 149-260.
  • Whitman, Cedric: Sophocles. A Study of Heroic Humanism. Cambridge Massachusetts 1951: Harvard University Press.
  • Willms, Lothar: Transgression, Tragik und Metatheater. Versuch einer Neuinterpretation des antiken Dramas. Tübingen 2014: Narr Franke Attempto.
  • Winnington-Ingram, Reginald P.: Sophocles. An Interpretation. Cambridge 1980: Cambridge University Press.

7. Abbildungsnachweise

Teaserbild: Medea-Sarkophag (Detail), um 140-150 n. Chr., Marmor, 227 x 67 x 79 cm, gefunden 1887 vor der Porta San Lorenzo, Rom. Staatliche Museen zu Berlin, Antikensammlung, Inv. Nr. Sk 843b.
Quelle: Commons Wikimedia/User: Typhon2222. Foto von Mont Allen.
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Benedikt Krämer: Tragischer Held. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 12. April 2024. DOI: 10.6094/heroicum/thd1.0.20240412